Manuel Kellner
Die Oktoberrevolution 1917 in Russland war keineswegs der Putsch einer kleinen Minderheit, sondern ein Aufstand. Er stützte sich auf die Mehrheit der in Räten organisierten ArbeiterInnenklasse der großen Städte und der überwiegend bäuerlichen Bevölkerung.
Damals ging es nicht um die Alternative „bürgerlich-parlamentarische Demokratie“ oder „bolschewistische Diktatur“. Es ging um die Alternative „brutale Militärdiktatur und Fortsetzung des Kriegs“ oder „alle Macht den Sowjets (Räten)“. Die „gemäßigten“ sozialistischen Kräfte (Sozialrevolutionäre und Menschewiki) unterstützten die bürgerliche Provisorische Regierung, die um jeden Preis den Krieg fortsetzen wollte. Sie weigerte sich, soziale Reformen durchzuführen (Brot, Achtstundentag, Arbeiterkontrolle). Sie lehnte es ab, den Bauern Land und den Nationalitäten Selbstbestimmung zu geben. Die Bolschewiki leisteten – obwohl sie seit den Juliereignissen unterdrückt worden waren – entscheidende Hilfe bei der Niederschlagung des Kornilow-Putschs. Danach errangen sie innerhalb weniger Wochen die politische Hegemonie.
Im August 1917, wenige Monate vor der Revolution, schrieb Lenin Staat und Revolution. Er rekonstruierte die Position von Marx und Engels zur Frage des Staates aufgrund von deren Verarbeitung der Erfahrungen der Pariser Kommune von 1871. Lenin vertrat ein radikaldemokratisches Konzept: An die Stelle des alten Staatsapparats sollte ein Staat vom Typ der Pariser Kommune treten (die „Diktatur des Proletariats“), der von Anfang an den Keim des Absterbens von Staatlichkeit überhaupt in sich trage. Eben in dieser Tradition sah sich auch die junge Sowjetrepublik.
Schon bald nach dem Sturz der Regierung Kerenski musste die Sowjetregierung jedoch ganz andere Maßnahmen ergreifen. Der Bürgerkrieg forderte Requisitionen von Lebensmitteln auf dem Land („Kriegskommunismus“) und die Unterdrückung derjenigen (auch, wenn sie sich sozialistisch nannten), die die Gegenseite unterstützten. 1920 war der Bürgerkrieg vorbei, und doch beschlossen die Bolschewiki auf ihrem X. Parteitag neben der begrenzten Liberalisierung des Handels (Neue Ökonomische Politik) das Verbot der übrigen Sowjetparteien und das Verbot der Fraktionen in der eigenen Partei.
Die Bolschewiki fassten die russische Revolution als Auftakt zur sozialistischen Weltrevolution auf, zur Revolution in den entwickelten Industrieländern. Bekanntlich kam eine mächtige revolutionäre Welle über Europa, die aber nicht zu sozialistischen Revolutionen führte. So entwickelte sich in der isolierten Sowjetrepublik die Bürokratenherrschaft, die letztlich die Rätedemokratie vollends erwürgte.
Die Sowjetunion ist im Dezember 1991 endgültig untergegangen, doch das Erbe der Oktoberrevolution bleibt ein wichtiger Bestandteil des Kampfes für eine sozialistische Demokratie des 21. Jahrhunderts. Vor allem die Selbstorganisation von unten, die zum Aufbau alternativer Staatsmachtorgane führt, der konsequente Internationalismus und eine revolutionäre Partei, die in Räten die Mehrheit erobert, sind auch in der Zukunft möglich und nötig.
Erst bei einem hohen Grad selbstbestimmter kollektiver Aktivität können breite Massen revolutionäres Bewusstsein entwickeln. Das emanzipatorische Projekt der globalen sozialistischen Revolution des 21.Jahrhunderts wird sich neben früheren und späteren Erfahrungen nicht zuletzt auch auf das Erbe der Oktoberrevolution und der jungen Sowjetrepublik beziehen.