Nach dem Referendum in der Türkei:
Erklärung von Sosyalist Demokrasi için Yeniyol, türkische Sektion der IV. Internationale
Es wurde eine Bresche geschlagen – verstärken wir das NEIN!
Nach dem Referendum zur Verfassungsänderung, die Erdoğan die Alleinherrschaft ermöglicht, verkündete er seinen Sieg. Die 51,3 Prozent für das „Ja“ (gegenüber 48,7 Prozent für das „Nein“) sind aber bestimmt nicht das Ergebnis, womit das Regime rechnete. Dieses hatte in den vergangenen Monaten – die zudem vom Ausnahmezustand geprägt waren – alle staatliche Macht dafür eingesetzt, um eine gewaltige Propagandamaschine für das „Ja“ zu organisieren und um die Befürworter des „Nein“ zu kriminalisieren und zu unterdrücken. Mit religiösen Reden, nationalistischer Rhetorik und antiwestlichem Populismus, dessen Verschwörungstheorie vor Dummheit nur so strotzte, wurden alle Mittel eingesetzt, um die Verfechter des „Nein“ zu stigmatisieren. Und trotzdem beträgt der Unterschied bei den Stimmen – selbst nach Angaben des Regimes – gerade mal 1,3 Millionen (bei einer Gesamtzahl von 48 Millionen). Ganz unbestreitbar ist dies eine Niederlage für den von Erdoğan geführten islamisch-nationalistischen Block.
Und es ist auch ein armseliges Ergebnis für das Bündnis von AKP und rechtsextremer MHP, das im Vergleich zu den Wahlergebnissen vom November 2015 etwa 10 Prozent der Stimmen verloren hat. Und was diese Niederlage noch verstärkt, ist das mehrheitliche „Nein“ in den drei größten Städten des Landes − Istanbul, Ankara und Izmir – und dies umso mehr, als die beiden erst genannten von der AKP regiert werden. Außerdem wurde in den traditionell islamistisch-konservativen Vierteln Istanbuls mehrheitlich für das „Nein“ gestimmt. Man schätzt, dass 10 Prozent der AKP-WählerInnen und 73 % der MHP-WählerInnen für das „Nein“ votiert haben. Die totale Unterwerfung des MHP-Führers – der mit einer starken Opposition konfrontiert ist − unter Erdoğan, um seinen Ministersessel zu behalten, hat also nicht die Zustimmung der Basis erhalten. Diese war damit auch ein wichtiger Bestandteil der Nein-Stimmen. Diese Krise wird für die historische Partei der extremen Rechten zweifellos in einen tiefgreifenden Prozess der Desintegration und Restrukturierung münden.
Weiterhin sollte festgehalten werden, dass es bei der Wahlkampagne keine Chancengleichheit gab, vor allem aber: Der vom türkischen Staat unternommene Versuch eines „amtlichen“ Wahlbetrugs machen das Wahlergebnis sehr fragwürdig, wenn nicht von vornherein illegitim. Selbst wenn wir von den Unregelmäßigkeiten absehen, von denen die AKP oft Gebrauch macht: Dieses Mal hat der oberste Wahlausschuss auf Antrag eines AKP-Abgeordneten mitten im laufenden Abstimmungsprozess entschieden, dass auch Umschläge und Stimmzettel gültig sind, die nicht den offiziellen (amtlichen) Siegelabdruck haben, solange nicht bewiesen sei, dass sie von außen eingebracht wurden. Eine zweite, ergänzende Resolution segnete ab, dass Stimmzettel akzeptiert wurden, die mit Wahlstempeln einer früheren Abstimmung versehen waren, wo sich ja schon die Frage stellt, woher die Wahlbüroverantwortlichen überhaupt diese Stempel hatten. Damit wurden all die mit einem „Ja“-Votum vorbereiteten Stimmzettel als gültig erklärt, auch dann, wenn sie nicht den aktuellen Stempel trugen. Sie wurden dann im letzten Moment gegen die in den Urnen befindlichen Stimmzettel ausgetauscht.
Der größte Teil der Stimmzettel ohne offiziellen Stempel tauchte in Kurdistan auf, wo es sehr viele Fälle gab, in denen en bloc für „Ja“ gestimmt wurde und wo sich in diesen Wahlurnen überhaupt keine „Nein“-Stimmen fanden. Dort wurden auch von Tausenden von WählerInnen identische Unterschriften gefunden. Nach Angaben der HDP, einer linksreformistischen Organisation, die eng mit der kurdischen Bewegung verbunden ist, ergab sich aus ersten Beobachtungen, dass es sich um 500.000 Stimmzettel handelt. Die Verhaftung von 2.000 WahlhelferInnen der HDP in den Tagen unmittelbar vor der Wahl, ihre Entfernung aus den Wahllokalen durch das Militär bei der Stimmenauszählung zeigt ganz klar, dass dieser Wahlbetrug geplant war. Wenn also (im Vergleich zu den Wahlen 2015) in Kurdistan 10 % weniger für „Nein“ gestimmt haben, dann lag das wohl kaum daran, dass ein bedeutsamer Teil der kurdischen Bevölkerung auf die Linie von Erdoğan eingeschwenkt ist und sich von der kurdischen Bewegung abgewandt hat. Entscheidend dafür ist vielmehr der Wahlbetrug, aber auch die Tatsache, dass Kurdistan in den letzten 20 Monaten regelrechte Massaker erlebte, in denen Städte zerstört und 500.000 Menschen vertrieben wurden, darunter 300.000 WählerInnen, die zur Wahrnehmung ihres Wahlrechts finanzielle – aber auch psychologische − Schwierigkeiten zu überwinden hatten, wenn sie in ihre verwüsteten Stadtviertel zurückkehren wollten. Und nicht zu vergessen: Die Wahlkampagne lief, während 13 HDP-Abgeordnete (darunter die beiden Vorsitzenden), mehr als 80 Bürgermeister und Tausende von Mitgliedern seit Monaten inhaftiert sind.
Wäre es ohne den Wahlbetrug möglich gewesen, dass das Nein-Lager gesiegt hätte, wo schließlich der Abstand vergleichsweise gering war? Nach Schätzungen der republikanischen CHP und der HDP belief sich die Manipulation auf 3 - 4 Prozent der Stimmen.
Aber gleich wie: Diese schwerwiegenden Verstöße gegen das Wahlgesetz machen nicht nur das Wahlergebnis zweifelhaft, sondern machen das ganze Referendum illegitim und verlangen nach einer Annullierung.
Aber das Regime ist wohl dazu nicht bereit, schließlich rief Erdoğan noch in der Wahlnacht aus: „Ermüdet nicht das Land mit euren unnützen Diskussionen (…) vergeudet nicht mit Protestaktionen eure Zeit.“ Dem türkischen Duce treu ergeben, hat die oberste Wahlbehörde die Anträge der Opposition auf Annullierung der Wahl zurückgewiesen. Gleichzeitig wurden 40 AktivistInnen des „Nein“ im Anschluss an Haus- und Bürodurchsuchungen inhaftiert, weil sie das „Ja“-Votum als illegitim bezeichnen.
Angesichts des Wahlbetrugs und trotz der Repression sind die demokratischen Kräfte des „Nein“- Lagers auf der Straße. Diese Kräfte entsprechen der politischen Zusammensetzung und dem Geist der Gezi-Proteste und mobilisieren die Jugend. Die offizielle Siegesmeldung des Übergangs zur Alleinherrschaft und damit auch zur verschärften Repression seitens des Regimes hat weder zu einer Entmutigung noch zu einer Demobilisierung der Verfechter des „Neins“ geführt. Im Gegenteil: Es wächst das Bewusstsein, dass die Mobilisierung für das „Nein“ zur Schwächung von Erdoğans Hegemonie beigetragen hat. Viele Menschen machen jetzt die Erfahrung, dass trotz der Widersprüche, die es im „Nein“-Lager gibt, die Hälfte der Gesellschaft – wenn sie gemeinsam agiert – in der Lage ist, eine Bresche in den herrschenden Block zu schlagen. Dies hat die Kampfbereitschaft bedeutender Teile der Gesellschaft verstärkt. Es besteht allerdings auch die Gefahr, dass die Bewegung aufgrund fehlender klarer Orientierung und taktischer Zielsetzungen an Kraft verliert und sich erschöpft. Die Bewegung muss sich eigenständig organisieren. Die „Nein“-Versammlungen, die während der Kampagne mit großer Unterstützung durch die radikale Linke aufgebaut wurden, können als Grundlage einer solchen Neustrukturierung dienen.
Der Kampf wird hart sein, aber egal wie: Die Bresche ist geschlagen.
Rufen wir also mit all unseren Kräften: Nein, es ist noch nicht zu Ende. Es hat gerade erst angefangen.
- April 2017
Übersetzung: JS
http://www.yeniyol.org/gedik-acildi-hayiri-guclendirelim/
http://internationalviewpoint.org/spip.php?article4940