H. N.
Seit November 2018 bewegt die Rebellion der „Gelbwesten“ Frankreich. Demonstrationen und Blockaden finden im ganzen Land statt. Hunderttausende haben sich bisher an den verschiedensten Aktionen beteiligt.
Auslöser für die massiven Proteste war die von der französischen Regierung angekündigte Erhöhung der Kraftstoffsteuern aus „ökologischen“ Gründen.
Die Ursachen liegen jedoch tiefer. Es gibt offenbar eine enorme Empörung der „da unten“ über soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit. Die Arroganz der „da oben“ tut ein Übriges.
Trotz der Kombination aus brutaler Bekämpfung, medialer Verleumdung und taktischen Zugeständnissen vermochte Staatspräsident Macron bisher nicht, die lautstarke Kritik an seiner neoliberalen und prokapitalistischen Politik zum Verstummen zu bringen.
GewerkschafterInnen, Linke, SchülerInnen und Studierende mischen sich in Frankreich verstärkt in die Bewegung ein. Sie überlassen nicht rechten und faschistischen Gruppierungen die Straße.
Auch in Deutschland werden die Proteste der „Gelbwesten“ vom Establishment in Politik und Medien als Gefahr für die herrschende (Un-) Ordnung erkannt und entsprechend diffamiert.
Wir wollen mit dieser Theorie-Beilage einen kleinen Beitrag zur Information über die Bewegung der „Gelbwesten“ leisten – mit der Dokumentation ihrer 40 Forderungen, des Aufrufs der ersten „Versammlung der Versammlungen“ der Gelbwesten und von Auszügen aus einem Text des französischen Schriftstellers Édouard Louis.
Die 40 Forderungen der „gilets jaunes“ („Gelbwesten“)*
– Keine Wohnungslosigkeit.
– Höhere Progression bei der Einkommensteuer.
– Mindestlohn von 1.300 Euro netto.
– Förderung von kleinen Unternehmen und Geschäften in den Dörfern und Innenstädten. Kein weiterer Bau von großen Gewerbegebieten an den Rändern der Großstädte, die den Einzelhandel ersticken. Kostenlose Parkplätze in den Innenstädten.
– Umfassender Plan zur (energetischen) Isolierung der Wohnungen (Umweltschutz mit Einsparungen für die Haushalte verbinden).
– Die großen Konzerne (McDonalds, Google, Amazon, Carrefour) sollen bei der Besteuerung großes Geld bezahlen, die kleinen Unternehmen (Handwerker, kleine und mittlere Betriebe) sollen kleines Geld zahlen.
– Einheitliches Sozialversicherungssystem für alle (einschließlich Handwerker und kleinen Selbständigen). Abschaffung der Sozialversicherung für Selbständige (RSI).
– Das Rentensystem muss solidarisch und darum gesetzlich bleiben. Kein Rentensystem nach Punkten.
– Keine weitere Erhöhung der Kraftstoff-Steuern.
– Keine Rente unter 1.200 Euro monatlich.
– Jeder gewählte Abgeordnete hat das Recht auf den Durchschnittslohn. Die Reisekosten werden überprüft und erstattet, wenn sie gerechtfertigt sind. Die Abgeordneten haben das Recht auf Restaurant- und Urlaubsgutscheine.
– Die Gehälter aller Franzosen, die Renten und die Sozialleistungen müssen der Inflation angepasst werden.
– Schutz der französischen Industrie. Standortverlagerungen verbieten. Der Schutz unserer Industrie bedeutet den Schutz unseres Fachwissens und unserer Arbeitsplätze.
– Schluss mit der Entsendung von ArbeitnehmerInnen. Es ist nicht akzeptabel, dass jemand, der in Frankreich arbeitet, nicht das gleiche Gehalt und die gleichen Rechte erhält. Jeder, der auf französischem Gebiet arbeitet, muss den französischen Staatsbürgern gleichgestellt sein, und sein Arbeitgeber muss ebenso viel Abgaben zahlen wie ein französischer Arbeitgeber.
– Die Anzahl der befristeten Arbeitsverträge für große Unternehmen muss weiter begrenzt werden. Wir wollen mehr unbefristete Arbeitsverträge.
– Beendigung des Programms von Steuererleichterungen für die „Förderung des Wettbewerbs und der Beschäftigung“. Dieses Geld soll zur Förderung einer französischen Wasserstoffauto-Industrie eingesetzt werden (die im Gegensatz zu Elektroautos wirklich ökologisch ist).
– Ende der Austeritätspolitik. Einstellung der Zinszahlungen auf Schulden, die als illegitim eingestuft wurden. Beginn der Schuldentilgung, ohne das Geld den Armen und weniger Armen zu nehmen, sondern in dem wir die 80 Milliarden Euro aus hinterzogenen Steuern aufspüren.
– Bekämpfung der Fluchtursachen, die Migration erzwingen.
– Faire Behandlung von Asylbewerbern. Sie brauchen Unterkunft, Sicherheit, Nahrung und Bildung für Minderjährige. Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen (UN), um sicherzustellen, dass in zahlreichen Ländern der Welt Auffanglager eröffnet werden, in denen die Antragsteller die Resultate des Verfahrens abwarten.
– Abgelehnte Asylbewerber sollen in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden.
– Umsetzung einer Politik zur echten Integration. In Frankreich zu leben heißt, französisch werden (Französischkurse, Kurse in französischer Geschichte und in staatsbürgerlicher Bildung mit Abschlusszertifikat).
– Das Höchstgehalt soll auf 15.000 Euro monatlich fest gelegt werden.
– Schaffung von Arbeitsplätzen für Arbeitslose.
– Anhebung der Leistungen für Menschen mit Behinderung.
– Begrenzung der Mieten. Mehr bezahlbaren Wohnraum. Besonders für Studenten und prekär Beschäftigte.
– Verbot des Verkaufs staatlicher Grundstücke und Einrichtungen (etwa Flughäfen).
– Bereitstellung erheblicher Mittel für Justiz, Polizei, Gendarmerie und Militär. Bezahlung oder Ausgleich für die von Ordnungskräften geleisteten Überstunden.
– Die Einnahmen aus den Mautgebühren sollen vollständig für den Erhalt der Autobahnen, Straßen und Verkehrssicherheit verwendet werden.
– Seit der Privatisierung sind die Preise für Gas und Strom gestiegen, wir fordern, dass beides wieder öffentlich wird und die Preise entsprechend gesenkt werden.
– Steigerung der Lebensqualität für ältere Menschen. Verbot, mit älteren Menschen Geld zu verdienen. Die Zeit des „Grauen Goldes“ ist vorbei, die Zeit des „Grauen Wohlergehens“ beginnt.
– Keine weiteren Schließungen von Bahnlinien, Postämtern, Schulen und Geburtskliniken.
– Volksentscheide sollen in die Verfassung aufgenommen werden.
– Einrichtung einer verständlichen und effizienten Internetseite, die durch ein unabhängiges Gremium kontrolliert wird und auf der Bürger ihre Gesetzesvorschläge einbringen können. Erhält einer dieser Vorschläge 700.000 zustimmende Unterschriften, muss er in der Nationalversammlung diskutiert und gegebenenfalls ergänzt und verbessert werden. Die Nationalversammlung soll dazu verpflichtet werden, einen solchen Vorschlag (ein Jahr nach dem Eingang der notwendigen 700.000 Unterschriften) den Franzosen zur Abstimmung vorzulegen.
– Rückkehr zur siebenjährigen Amtszeit für den Präsidenten. (Die Wahl der Abgeordneten zwei Jahre nach der Präsidentschaftswahl übermittelt dem Präsidenten ein positives oder negatives Signal hinsichtlich seiner Politik. Sie trägt somit dazu bei, der Stimme der BürgerInnen Gehör zu verschaffen.)
– Rente mit 60. Alle Personen, die körperlich schwer arbeiten (beispielsweise Maurer oder Schlachthausarbeiter) sollen das Recht haben, ab 55 Jahren in Rente zu gehen.
– Für Kinder, die keine Ganztagsschule besuchen können, sollen die Zuschüsse zur Betreuung über das sechste Lebensjahr hinaus bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes verlängert werden.
– Förderung des Gütertransport auf Schienen.
– Keine lebenslangen Bezüge für Präsidenten.
– Verbot einer Gebühr für Händler, wenn ihre Kunden mit Kreditkarte bezahlen.
– Besteuerung von Schiffsdiesel und Kerosin.
*[Aus: SoZ, Nr.1/2019.]