Die­ses gan­ze ver­faul­te Sys­tem muss weg

Wie sind der­zeit die Arbeits­be­din­gun­gen im Kran­ken­haus, wel­che Fol­gen hat die Pan­de­mie? Inter­view mit Alex­an­dra Wil­ler zum Gesund­heits­we­sen in Zei­ten von Coro­na, Kapi­ta­lis­mus und Krise.

Du bist ver.di-Vertrauensfrau und Per­so­nal­rä­tin am Uni­kli­ni­kum Essen. Der Per­so­nal­rat hat die 12,5 Stun­den-Schich­ten abge­lehnt, die euer Vor­stand ein­füh­ren will.
Ja, als die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen auf den Sta­tio­nen das gehört haben, war die Empö­rung und Ableh­nung groß. Selbst jetzt, wo nicht alle Bet­ten belegt sind, ist die Arbeit auf den Covid-Sta­tio­nen extrem anstren­gend, allein schon wegen der vol­len Schutz­be­klei­dung. Auch jetzt infi­zie­ren sich immer wie­der Kolleg*innen. Vor­letz­tes Jahr haben bei uns hun­der­te Beschäf­tig­te 30 Tage lang gestreikt, weil sie mehr Per­so­nal und Min­dest­be­set­zun­gen gefor­dert haben. Doch nicht mal das, was damals zuge­stan­den wur­de, wird von der Kli­nik­lei­tung ein­ge­hal­ten. Und jetzt soll­ten sie die­sen Man­gel mit 12,5 Stun­den-Schich­ten auf­fan­gen? Nein, danke.

Wir ken­nen außer­dem die Erfah­run­gen aus Wuhan. Dort wur­den auch erst 12-Stun­den Schich­ten gear­bei­tet. Dann aber wur­den sie auf 6-Stun­den-Schich­ten geän­dert, weil rei­hen­wei­se Pfle­ge­kräf­te auch durch die lan­gen Schich­ten krank wurden.
Oben­drein wür­de es wohl nicht bei einer ein­ma­li­gen Sache blei­ben. Bei der nächs­ten Grip­pe­wel­le zum Bei­spiel, wenn mal wie­der zu viel Per­so­nal aus­fällt, kämen wahr­schein­lich die nächs­ten 12-Stun­den-Schich­ten. Es ist wirk­lich ein Irr­sinn die­ses Sys­tems, dass die einen genau in dem Moment noch mehr und län­ger aus­ge­beu­tet wer­den sol­len, wo gleich­zei­tig Hun­dert­tau­sen­de ande­re in die Arbeits­lo­sig­keit gedrängt werden.

Oberhausen, April 2020. Foto: Avanti O.

Ober­hau­sen, April 2020. Foto: Avan­ti O.

Nicht alle Berufs­grup­pen im Kran­ken­haus ste­hen momen­tan in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung so da, wie Pfle­ge­kräf­te und Ärzte.
Zuerst ein­mal grenzt auch die der­zei­ti­ge „Auf­merk­sam­keit“ der herr­schen­den Politiker*innen und Medi­en für Pfle­ge­kräf­te und Ärzt*innen an Ver­höh­nung. Es gibt gro­ße Dan­ke-Pla­ka­te, und man dis­ku­tiert über eine Prä­mie von eini­gen hun­dert Euro für sie. Doch wofür? Dafür, dass sie heu­te für die Fol­gen der jah­re­lan­gen Ein­spa­run­gen und Pri­va­ti­sie­run­gen den Kopf hin­hal­ten sol­len. Statt sol­cher „Auf­merk­sam­kei­ten“ brau­chen die Kolleg*innen mehr Per­so­nal, mehr Mas­ken, mehr Schutzausrüstung…
In der Tat gibt es dar­über hin­aus wei­te­re Berufs­grup­pen im Gesund­heits­we­sen, die die­se Kri­se mit vol­ler Wucht abbe­kom­men, die genau­so gefähr­det sind. Die Rei­ni­gungs­kräf­te zum Bei­spiel müs­sen bei uns wegen der Infek­ti­ons­ge­fahr sehr viel mehr rei­ni­gen, ohne dass auch nur eine Rei­ni­ge­rin zusätz­lich ein­ge­stellt wor­den wäre. Und natür­lich bekom­men sie nur extrem ratio­nier­te Schutz­aus­rüs­tung. In der pri­va­ti­sier­ten Küche wer­den wie­der­um 19 Kolleg*innen in Kurz­ar­beit geschickt. Sie haben Löh­ne, die kaum über dem Min­dest­lohn lie­gen, und müs­sen nun mit 60 % davon über­le­ben – wäh­rend in der Rei­ni­gung und bei ande­ren Hygie­ne­maß­nah­men drin­gend mehr Per­so­nal gebraucht würde.

Doch die jet­zi­ge Lage führt auch dazu, dass bei uns gera­de in die­sen Berei­chen die Empö­rung wächst. Nicht weni­ge sagen sich: „Wir ver­die­nen schon viel zu wenig, und dafür sol­len wir jetzt auch noch unse­re Gesund­heit ris­kie­ren? Irgend­wann reicht’s.“ Die Kran­ken­trans­por­ter zum Bei­spiel haben sich zusam­men­ge­tan, um eine Zula­ge und ange­mes­se­ne Schutz­mas­ken zu for­dern. Die Rei­ni­gungs­kräf­te sind seit Jah­ren in eine Toch­ter­fir­ma aus­ge­glie­dert, wo sie nur noch den Bran­chen­min­dest­lohn bekom­men. Jah­re­lang schon regiert hier ein Regime mas­si­ver Ein­schüch­te­rung. Doch nun haben zum ers­ten Mal Rei­ni­ge­rin­nen 300 Unter­schrif­ten gesam­melt, um höhe­re Löh­ne und mehr Zeit zum Rei­ni­gen der Sta­tio­nen zu for­dern. Der Geschäfts­füh­rer der Toch­ter­fir­ma (der gleich­zei­tig Per­so­nal­chef im Uni­kli­ni­kum ist) hat eis­kalt erklärt, dass sie kei­nen Cent mehr bekom­men wer­den. Und dass es eine Frech­heit sei, die Coro­na-Kri­se „aus­zu­nut­zen“. Die­se Leu­te sind Meis­ter in der Umkeh­rung der Tat­sa­chen: Denn wer nutzt hier die Coro­na-Kri­se aus? Als Ant­wort hän­gen seit­dem im gan­zen Gelän­de Fotos, auf denen Beschäf­tig­te des Kli­ni­kums ihre Soli­da­ri­tät mit den Rei­ni­ge­rin­nen demonstrieren.

Die­se Art von Auf­merk­sam­keit fin­de ich eigent­lich die Wich­ti­ge. Von den Herr­schen­den haben wir kei­ne Wert­schät­zung zu erwar­ten. Aber wenn wir uns zusam­men­tun, wenn wir soli­da­risch sind und kämp­fen, kön­nen wir uns Respekt verschaffen.

Siehst du eine Chan­ce, dass die Erfah­run­gen aus der Coro­na-Kri­se dabei hel­fen, ein ande­res Gesund­heits­sys­tem durchzusetzen?
Ein ande­res Gesund­heits­sys­tem durch­set­zen, im Kapi­ta­lis­mus? Nein, defi­ni­tiv nicht. Seit fast 200 Jah­ren tötet die­ser Kapi­ta­lis­mus. In Krie­gen, durch Hun­ger, durch heil­ba­re Armuts­krank­hei­ten. Und in der jet­zi­gen Kri­se schafft es die­ses Sys­tem noch nicht mal aus­rei­chend Schutz­ma­te­ria­li­en zu pro­du­zie­ren, sodass sich vie­le Beschäf­tig­te infi­zie­ren. Der Kapi­ta­lis­mus ver­langt, dass Geschäf­te viel zu früh wie­der öff­nen, damit „die Wirt­schaft wie­der in Schwung kommt“. Der Kapi­ta­lis­mus führt dazu, dass die Tage­löh­ner in den armen Län­dern die Schutz­vor­schrif­ten nicht ein­hal­ten kön­nen, weil sie und ihre Fami­li­en ohne Lohn ver­hun­gern. Die­ses gan­ze ver­faul­te Sys­tem muss weg.

Und dass das Gesund­heits­sys­tem in Deutsch­land wie in allen impe­ria­lis­ti­schen Län­dern in den letz­ten Jahr­zehn­ten der­ma­ßen zusam­men­ge­spart und pri­va­ti­siert wor­den ist, liegt ja auch nicht an man­geln­der Erfah­rung der Politiker*innen. Es ist eine zwangs­läu­fi­ge Fol­ge der wirt­schaft­li­chen Dau­er­kri­se, in der der Kapi­ta­lis­mus seit Jahr­zehn­ten steckt. Auf­grund der gesät­tig­ten Absatz­märk­te macht die kapi­ta­lis­ti­sche Klas­se immer weni­ger Pro­fit mit der Pro­duk­ti­on. Um ihre Pro­fi­te trotz­dem zu stei­gern, plün­dern sie die öffent­li­chen Kas­sen und eig­nen sich die Berei­che an, die bis­lang zum Teil von der Pro­fit­lo­gik ver­schont waren. Des­halb muss­ten die Kran­ken­häu­ser zusam­men­ge­spart und so umge­baut wer­den, dass pri­va­te Kon­zer­ne und Ban­ken mit ihnen Gewinn machen kön­nen. Und des­halb wird die­se – für Beschäf­tig­te wie Pati­en­ten kata­stro­pha­le – Ent­wick­lung auch nach Coro­na wei­ter­ge­hen. Der hes­si­sche grü­ne Sozi­al­mi­nis­ter besaß sogar die Dreis­tig­keit zu sagen, dass die Erfah­run­gen der Coro­na-Kri­se ein Beleg dafür wären, dass zen­tra­li­sier­te, gro­ße Kran­ken­häu­ser beson­ders effek­tiv sei­en – und die vie­len klei­nen Kran­ken­häu­ser daher ruhig wei­ter geschlos­sen wer­den sollten.

Was man jedoch sehr wohl hof­fen kann ist, dass die Erfah­run­gen der letz­ten Wochen dazu bei­tra­gen, dass sich mehr Arbei­ten­de den Kämp­fen gegen die Ver­schlech­te­run­gen im Gesund­heits­we­sen anschlie­ßen. Und das wird auch nötig sein. Denn die gigan­ti­schen Sum­men, die die Regie­rung in der durch Coro­na aus­ge­lös­ten tie­fen Wirt­schafts­kri­se zur Ret­tung der Kapi­ta­lis­ten aus­gibt, wird sie woan­ders ein­spa­ren müs­sen. Was bedeu­tet, dass die Angrif­fe im Gesund­heits­we­sen schlim­mer werden.

Um die­se wirk­lich abweh­ren zu kön­nen, braucht es aller­dings Kämp­fe viel grö­ße­rer Dimen­sio­nen. Hier­für müs­sen sich die Arbei­ten­den im Gesund­heits­we­sen mit all den ande­ren Arbei­ten­den zusam­men­tun, die in der Kri­se ihre Haut ver­tei­di­gen – und in die­sen Kämp­fen wie­der an die Per­spek­ti­ve einer ande­ren Gesell­schafts­ord­nung anknüp­fen. Erst dann, wenn der Kapi­ta­lis­mus gestürzt ist, wird es mög­lich sein, ein Gesund­heits­sys­tem zu ent­wi­ckeln, das auf die best­mög­li­che Ver­sor­gung aller Men­schen aus­ge­rich­tet ist.

aus der Avan­ti O. April - Mai 2020
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