Alina Fuchs
Der Kollege wirkt gleichmütig, als er es sagt: „Is’ halt so.“ Ich hoffe, dass man mir den Schreck über diese Aussage nicht ansieht.
Wir und andere Angestellte eines Wohnheims für Menschen mit geistiger Behinderung hatten uns über die Arbeitssituation dort unterhalten. Ein Gespräch, das ich angestoßen hatte. Denn, was mich als Freiwilligendienstleistende nur am Rande betrifft, lässt mir keine Ruhe.
„Wie viel Tage hast du jetzt gemacht?“
„Neun.“
„In stressigen Wochen damals habe ich bis zu zwanzig Tage am Stück gearbeitet.“
„Wir sind alle schon mit Fieber zur Arbeit gekommen.“
Derartige Sätze fallen immer wieder. Auf Nachfrage, zufällig in Gesprächen nebenbei, ernsthaft, lachend. Beinahe, als wäre es ein Witz, mit Fieber zur Arbeit zu kommen. Aber es ist halt so.
Was derzeit ein absolutes Tabu ist, ist außerhalb der Pandemie die Norm, und was jetzt die Norm ist, ist andernfalls ein Witz.
„Wahrscheinlich ist das so ein Billigteil aus ’ner Sammelbestellung von irgendeiner anderen Veranstaltung. Ist übriggeblieben.“, scherzt eine Kollegin über eine über und über mit bunten „DANKE“-Schriftzügen dekorierte Tasse, die es von der Firma, zu der das Wohnheim gehört, samt einem Brief und einer winzigen Packung Trockenobst als Präsent gibt.
„Sie könnten auch klatschen.“
Der erste Coronabonus wäre höchstwahrscheinlich allen lieber, aber der war nur für Pflegeeinrichtungen. Das Heim ist aber eine Einrichtung der Wiedereingliederungshilfe, sagt die Bürokratie.
„Wenn wir die Pflege, die wir hier machen, nicht leisten würden, wären einige unserer Kunden [offizieller Ausdruck für die Heimbewohner; Anm. d. Au.] in einem Monat tot.“, sagt eine Fachkraft.
Erst jetzt hat die Gewerkschaft ver.di eine Einmalzahlung in Höhe von 400 Euro und eine Lohnerhöhung erkämpft, deren Höhe nach Gehaltsgruppen gestaffelt ist, erklärt mir die Teamleitung.
Ein Hauch von Ärger weht in den Worten einiger Mitarbeiterinnen, aber die große Wut suche ich in den Gesprächen vergeblich.
Stattdessen werde ich konfrontiert mit dem Gleichmut und Desinteresse des „Is’ halt so“.
Es sei doch nicht gesund, mit Fieber zur Arbeit zu kommen, bemerke ich einem Kollegen gegenüber.
„Es ist halt zu wenig Personal da.“
Ob man das nicht der Verwaltung gegenüber bemängeln und um mehr Einstellungen bitten könnte. Nur dann würde sich die Situation verbessern.
„Laut Personalschlüssel reicht’s aber.“
Und könne man den denn nicht erhöhen?
„Das geht nicht so einfach.“
Ich gebe es auf.
Derselbe Kollege ist ein überzeugter Vertreter der Hufeisentheorie, behauptet links käme rechts und rechts links wieder rum. Für das S-Wort wird man ihn wohl kaum gewinnen können. Ebenso wenig die Kollegin, die sich über die Tasse lustig gemacht hat. Sie engagiert sich bei der CDU. Wieder eine andere Fachkraft arbeitet parallel beim Sicherheitsdienst, hat viele Freunde bei der Polizei. Für Politik interessiert sie sich laut eigener Aussage nicht, und für ein Engagement hätte sie wahrscheinlich auch keine Zeit. Zusätzlich zu ihren Jobs muss sie sich um die Tiere auf ihrem Hof kümmern. Wie das ein Mensch aushält, ist mir schleierhaft.
Dennoch spürt man bei Zeiten Ärger: Der nicht erhaltene Bonus, die Tasse, Überstunden. Die Kollegen in der Verwaltung, die, wie ein Mensch berichtete, die ganzen guten Masken bekämen, während die Angestellten in den Heimen OP-Masken bekommen.
Erst bei den letzten hohen Infektionszahlen sollten FFP2-Masken – „sparsam“ – eingesetzt werden. Die Tragepflicht für FFP2-Masken im Kundenkontakt besteht zurzeit nur wegen des Infektionsgeschehens im Heim.
Es wird Zeit, dass aus dem „Is’ halt so.“ ein „Dreckssystem!“, aus dem Schwelbrand unter der Oberfläche ein Leuchtfeuer wird, auf den traumlosen Schlaf ein Erwachen folgt.
Genossin, Genosse, rüttel deine Kollegen wach!