Okto­ber­re­vo­lu­ti­on in Russ­land 1917-Putsch oder Aufstand?

 

Manu­el Kellner

Achtung Ironie (?): Der Bolschewik, Ölgemälde von Boris Kustodijew (1920). Foto: Gemeinfrei

Ach­tung Iro­nie (?): Der Bol­sche­wik, Ölge­mäl­de von Boris Kus­to­di­jew (1920). Foto: Gemeinfrei

Hun­dert Jah­re rus­si­sche Revo­lu­ti­on – und wie­der ver­brei­ten die bür­ger­li­chen Medi­en ihre alte Lei­er: Die Erobe­rung der poli­ti­schen Macht durch die Bol­sche­wi­ki am 25. Okto­ber 1917 alter Zeit­rech­nung (8. Novem­ber) wäre der Putsch einer klei­nen Min­der­heit gewesen.
Für die Süd­deut­sche Zei­tung zum Bei­spiel liegt die Wür­ze in der Kür­ze: „Im Okto­ber put­schen die Bol­sche­wis­ten erneut - dies­mal erfolg­reich: Wla­di­mir Iljitsch Ulja­now, bes­ser bekannt unter sei­nem Kampf­na­men Lenin, reißt die Macht an sich.“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/russisches-revolutionsjahr-wie-das-zarenreich-unterging-1.3409424-10)
Die geschicht­li­che For­schung kommt zu ande­ren Ergeb­nis­sen. Kein Wun­der, wo doch Zeit­zeu­gen - aus­ge­wie­se­ne poli­ti­sche Geg­ner der Bol­sche­wi­ki! - schon ganz anders geur­teilt hat­ten. So schrieb der Men­sche­wik N. N. Sucha­now: „Es ist sicht­lich unsin­nig, von einem Mili­tär­putsch statt von einem Volks­auf­stand zu spre­chen, wenn hin­ter der Par­tei der über­wäl­ti­gen­de Teil der Bevöl­ke­rung steht und die Par­tei de fac­to bereits die gesam­te rea­le Macht und Auto­ri­tät erobert hat.“ 
Der bür­ger­li­che deut­sche Wis­sen­schaft­ler Oskar Anwei­ler stell­te fest: „In den Arbei­ter­rä­ten der weit­aus meis­ten Indus­trie­städ­te hat­ten die Bol­sche­wi­ki die Mehr­heit, eben­so in den meis­ten Sol­da­ten­rä­ten der Gar­ni­sons­städ­te.“ Die eng­li­sche His­to­ri­ke­rin Beryl Wil­liams schrieb im glei­chen Sin­ne: „Die Mas­sen sahen die Sowjet­macht … als Lösung ihrer Pro­ble­me an, und nur die Bol­sche­wi­ki wur­den wirk­lich mit der Sowjet­macht iden­ti­fi­ziert. … Ihre Par­tei konn­te sich nun auf einer Wel­le der Sym­pa­thie an die Macht tra­gen lassen.“

Am 10. Okto­ber (23. Okto­ber) sprach sich das Zen­tral­ko­mi­tee der Bol­sche­wi­ki für den Auf­stand aus, ohne ein kon­kre­tes Datum zu nen­nen. Bei­de Sei­ten – die bereits weit­ge­hend iso­lier­te Pro­vi­so­ri­sche Regie­rung und hoch­ran­gi­ge Offi­zie­re einer­seits und revo­lu­tio­nä­re Matro­sen, Sol­da­ten und aus den Beleg­schaf­ten der Indus­trie­be­trie­be her­vor­ge­gan­ge­ne Rote Gar­den ande­rer­seits berei­te­ten sich vor aller Augen auf die ent­schei­den­de Aus­ein­an­der­set­zung vor.

Die Ent­schei­dung
Das revo­lu­tio­nä­re Mili­tär­ko­mi­tee unter Lei­tung von Leo D. Trotz­ki war eine offi­zi­el­le Ein­rich­tung der Sowjets, der Räte. Die­ses Komi­tee gab das Signal zum Auf­stand mit einer defen­siv gehal­te­nen Losung: „Die Revo­lu­ti­on ist in Gefahr! Abwehr der Verschwörer!“
In weni­gen Stun­den waren in der Haupt­stadt Petro­grad alle wich­ti­gen Schalt­stel­len besetzt, und schließ­lich wur­de auch die Regie­rung ver­haf­tet. Dabei gab es nur ganz weni­ge Opfer, viel weni­ger als beim Febru­ar-Auf­stand, als die Zaren­herr­schaft zusam­men­brach – und sehr viel weni­ger als auf den deut­schen Auto­bah­nen an einem belie­bi­gen Wochen­en­de des Jahrs 2017. Lynch­mor­de von Sei­ten der auf­ge­brach­ten Men­ge waren Ein­zel­fäl­le. Füh­ren­de Bol­sche­wi­ki wie Wla­di­mir A. Anto­now-Owsejen­ko ver­hin­der­ten sol­che Rache­ak­te mit Appel­len, die Ehre der Revo­lu­ti­on nicht zu beflecken.

Zeit­gleich trat der neu gewähl­te Sowjet­kon­gress in der Haupt­stadt zusam­men, der gesamt­rus­si­sche Kon­gress der Arbei­ter-, Sol­da­ten- und Bau­ern­rä­te. Mit 390 von 650 Dele­gier­ten hat­ten die Bol­sche­wi­ki dort eine abso­lu­te Mehr­heit. Gemäß ihrer Losung „Alle Macht den Räten!“ über­ga­ben die Auf­stän­di­schen die­sem Räte­kon­gress die Macht. Die bol­sche­wis­ti­sche Mehr­heit bil­de­te dar­auf­hin zusam­men mit den lin­ken Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren eine Koali­ti­ons­re­gie­rung, den ers­ten Rat der Volks­kom­mis­sa­re. Die Räte­macht war in den ers­ten Jah­ren der Revo­lu­ti­on radi­kal demo­kra­tisch, und meh­re­re Par­tei­en und Strö­mun­gen waren in ihr vertreten. 

Vgl. zum The­ma: Ernest Man­del, Okto­ber 1917, Staats­streich oder sozia­le Revo­lu­ti­on, Köln 1992.

aus der Ober­hau­se­ner Bei­la­ge zur Avan­ti April 2017
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