Tarifeinheit
Pidder Lüng
Wahrscheinlich wird wohl die Große Koalition im Herbst das Gesetz zur Tarifeinheit beschließen. Einheit klingt ja immer gut, weshalb ein großer Teil der Gewerkschaftsmitglieder dieses Vorhaben begrüßt. Sehen wir aber genauer hin, was es mit dieser Einheit auf sich hat. KritikerInnen brandmarken die Tarifeinheit als Einschränkung des Streikrechts. Hier ist offensichtlich etwas klärungsbedürftig.
Das Streikrecht ist Richterrecht. Wie bitte? Haben wir nicht alle in der Schule gelernt, dass zu den geheiligten Prinzipien des bürgerlichen Staates die Teilung in die drei Gewalten Gesetzgebung, Ausführung der Gesetze und Rechtsprechung gehört? Und widerspricht es nicht diesem Prinzip, dass Gerichte Recht setzen? Beim Streikrecht gibt es allerdings einige Besonderheiten.
Hintergrund: Juristisches zum Streikrecht
Es heißt, das Streikrecht sei ein Grundrecht. Im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes ist es allerdings nicht zu finden. Stattdessen gibt es in Art. 9 die „Koalitionsfreiheit“, aus der das Streikrecht abgeleitet wird. Die Logik ist im Grunde einfach und nachvollziehbar: Wenn Koalitionen erlaubt sind, müssen ihnen auch koalitionstypische Aktivitäten erlaubt sein, sonst gäbe es faktisch kein Koalitionsrecht. Bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland waren bürgerliche Kräfte durchaus fortschrittlicher als heutzutage. So wurde ausdrücklich deshalb auf eine rechtliche Regelung des Streikrechts verzichtet, weil es sich dabei immer nur um eine Einschränkung handeln könnte. Die Einschränkungen kamen dennoch, durch eine Rechtsprechung, die sich nur verstehen lässt, wenn die typische juristische Denkweise einbezogen wird. Demnach sind alle Bürgerinnen und Bürger frei und gleich. Sie beschäftigen sich damit , miteinander Rechtsgeschäfte einzugehen. Dass es in Wirklichkeit ganz anders ist, können die Menschen, für die der Begriff „abhängig Beschäftigte“ einfach nur ungewollt ehrlich ist, klar erkennen. JuristInnen wurde diese einfache Erkenntnis in langer Ausbildung mühsam abtrainiert. So ist denn die Vertragsfreiheit aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch die heiligste der Freiheiten, welche noch vor den Grundrechten im Studium behandelt wird. Die Vertragsfreiheit ist unter den Bedingungen sozialer Ungleichheit (unter denen die stärkere Partei die Bedingungen diktieren kann) so etwas wie die Freiheit freier Füchse in freien Hühnerställen. Aufgrund dieser Vorstellung ist denn nun auch für RichterInnen an Arbeitsgerichten die Koalitionsfreiheit eine Freiheit, welche der Gewerbefreiheit gleichrangig gegenübersteht. Dass das Streikrecht eines ist, welches dringend nötig ist, um die Übermacht der Arbeit“geber“ einzudämmen, kann in dieser Logik gar nicht vorkommen. So wird zwischen diesen vorgeblich gleichrangigen Freiheiten der Konflikt in der Rechtsprechung fein austariert. Heraus kam, was wir als streikrechtliche Regelungen heute erleben. Streiks dürfen den Geschäftsgang nur so weit stören, wie es unbedingt erforderlich ist. Das heißt: Sie sind überhaupt nur zulässig, wo es um den Abschluss von Tarifverträgen geht und auch dann nur als „ultima ratio“ – als letztes Mittel. Während ein Tarifvertrag gilt, sind sie gleich ganz verboten. Das will uns das schöne Wort von der Friedenspflicht sagen.
Was dann geschah
Um die Ereignisse zu verstehen, ist die Kenntnis dieser krausen Denkweise erforderlich. Was nicht heißt, dass es nötig ist, dafür Verständnis aufzubringen. Da es beim Streik immer um Tarifverträge gehen sollte, ist damit die Frage verbunden: Welcher Tarifvertrag denn? Seit 1957 war es ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (und damit auch der unteren Gerichte), dass im Zweifelsfall immer der jeweils speziellere Tarif gelten solle, wenn es mehrere Tarifverträge gibt. Das sollte unabhängig von der Gewerkschaftszugehörigkeit gelten – also unabhängig davon, welche Gewerkschaft den jeweils spezielleren Tarif abgeschlossen hatte und ob die jeweils betroffene Arbeitnehmerin darin organisiert war. Es gab also faktisch so etwas wie Tarifeinheit durch Rechtsprechung. Bis im Juni 2010 das Bundesarbeitsgericht von dieser Rechtsprechung abwich. Denn – eine späte aber gleichwohl richtige Erkenntnis – die Verdrängung eines Tarifvertrages durch einen anderen ist mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nicht zu vereinbaren. Die ist ein anschauliches Beispiel, wie die Rechtsprechung, die sich ja doch immer nur nach den geltenden Gesetzen richten soll, durch die soziale und politische Wirklichkeit verändert werden kann. Hatten doch vermehrt Spartengewerkschaften, wie z.B. die LokführerInnen, vermehrt eigene Tarifverträge erkämpft. Nun waren diese Spartengewerkschaften gleich Zweien ein Dorn im Auge: Der Unternehmerseite sowieso. Schlagkräftige und kämpferische Spartengewerkschaften können mit ihren Streiks eine Menge lahmlegen und Verbesserungen durchsetzen, die dem Profitstreben abträglich sind. Der DGB-Führung passte die Entwicklung ebenso wenig in den Kram. Dort, wo die DGB-Gewerkschaften sich sozialpartnerschaftlich-zurückhaltend verhalten, machen die Spartengewerkschaften ihnen Konkurrenz. So kam es Mitte 2010 zu einer gemeinsamen Gesetzesinitiative von BDA und DGB zur „Wiederherstellung der Tarifeinheit“.
Das heißt: Die Lage zur Zeit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zwischen 1957 und 2010 sollte wiederhergestellt werden. Dazu soll nur noch der Tarifvertrag der mitgliederstärksten Gewerkschaft im Betrieb gelten. Das wäre zum Beispiel in Krankenhäusern der Tarifvertrag von ver.di und nicht derjenige der Ärztevereinigung Marburger Bund. Die Tarife von ver.di sind für ÄrztInnen deutlich schlechter. Für das Pflegepersonal würden sie bei derzeitiger Rechtslage gelten, weil der Marburger Bund in seinen Tarifverträgen für die Pflege nichts geregelt hat. Nicht nur, dass die ÄrztInnen damit schlechter bezahlt würden, gefällt dem Marburger Bund wenig, sondern auch, dass die Friedenspflicht für ihn gölte. Für andere Bereiche wären die Folgen ähnlich. In den DGB-Gewerkschaften gibt es derzeit keine eindeutige Haltung. Einerseits wird besonders von den Vorständen betont, dass die Spartengewerkschaften durch die Organisation spezieller Gruppen die Solidarität untergraben, weshalb diese Gesetzesinitiative nötig sei.
Andererseits wird vielen GewerkschaftsaktivistInnen klar, dass es sich um eine massive Einschränkung des Streikrechts handelt. Nach etlichen Aktivitäten von unten, insbesondere der gewerkschaftsübergreifenden Initiative „Hände weg vom Streikrecht“ zog sich der DGB 2011 aus der Gesetzesinitiative wieder zurück. Bis heute ist allerdings die Haltung der DGB-Gewerkschaften alles andere als eindeutig. Der Schaden ist aber nun einmal angerichtet worden – will sagen: Die Gesetzesinitiative von BDA und DGB ist zu einem Vorhaben der Großen Koalition geworden, unter Federführung des SPD-geführten Bundesarbeitsministeriums.
Bewertung
Das Argument, dass Spartengewerkschaften zur Entsolidarisierung beitragen, ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Wenn eine ohnehin privilegierte Berufsgruppe wie ÄrztInnen noch eine Extrawurst gebraten kriegt, weckt das beim Fußvolk zu Recht wenig Sympathie. Aber dazu wäre noch einiges zu sagen: Die Politik der DGB-Gewerkschaften der letzten Jahre hat es diesen Gruppierungen leicht gemacht. Einzelne Berufsgruppen wurden innerhalb der DGB-Gewerkschaften marginalisiert und erhofften sich von ihnen nichts mehr, dafür umso mehr von eigenen Verbänden. Dass diese nicht immer gerade die Speerspitze des Fortschritts darstellen, steht auf einem anderen Blatt. Outsourcing, Privatisierung und Liberalisierung der Märkte haben zu deutlichen Verschlechterungen bei den Beschäftigten geführt, ohne dass die DGB-Gewerkschaften dem viel entgegenzusetzen hatten. Darauf müsste eine bessere Tarifpolitik die Reaktion sein und nicht der Ruf nach dem Gesetzgeber, der im Zweifel gegen die Interessen der Lohnabhängigen vorgeht, wenn diese nicht etwas anderes erkämpfen.
Dem Argument der Schädlichkeit der Spartengewerkschaften steht etwas Gewichtiges gegenüber: Jede gesetzliche Regelung zum Streikrecht ist eine Einschränkung, d.h. ein Schritt in Richtung Streikverbot. Und es gehört schon ein gigantisches Maß an Naivität dazu, zu glauben, dass BDA und Große Koalition es bei diesem ersten Schritt belassen würden. Im Gegenteil: Weitere Überlegungen sind längst im Gange. Die Einschränkung des Streikrechts betrifft nicht nur die DGB-Gewerkschaften, sondern alle. Mit diesem Gesetzesvorhaben ist die Schwächung aller Lohnabhängigen programmiert. Arbeitskämpfe können leichter kriminalisiert werden, Gewerkschaften zu hohen Schadenersatzforderungen verurteilt werden, wenn ein Gericht einen Streik für unrechtmäßig erklärt. Das bedeutet in der Konsequenz einen Angriff auf alle sozialen und politischen Errungenschaften, welche diese Klasse erkämpft hat. Wir brauchen keine Einschränkung des Streikrechts, sondern seine Ausweitung. Wie können wir dafür kämpfen? Einmal natürlich durch die Initiativen innerhalb der DGB-Gewerkschaften gegen dieses Gesetzesvorhaben. Zum anderen aber auch so, wie das Streikrecht einst durchgesetzt wurde: Mit Streiks.