Materialistische Geschichtsauffassung
Manuel Kellner
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Periode sozialer Revolution ein.” (MEW 13, S. 9.)
Das Bild von der Sprengung der Fesseln mag nicht unbedingt treffend sein. Zumindest heute scheint es eher so zu sein, dass die ungeheure Entwicklung der Produktivkräfte unter kapitalistischen Verhältnissen immer massiver in Zerstörungskräfte umschlägt.
„In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses […], aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsform schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.” (MEW 13, S. 9.)
Aus diesen Worten von Karl Marx haben Unberufene zu Unrecht ein Schema „gesetzmäßig” aufeinander folgender Produktionsweisen abgeleitet. In seinen Schriften findet sich hingegen immer wieder die Bemühung, solche Prozesse der Reifung der Bedingungen für große Umwälzungen konkret herauszuarbeiten.
Sein Freund Friedrich Engels sah sich 1890 zu folgender Klarstellung veranlasst:
„Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens.“ Doch viele andere Faktoren, politische Systeme und Ideologien, Ergebnisse gesellschaftlicher Kämpfe usw. wirken auf diese ökonomische Basis zurück: „Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten […] als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades.“ (MEW 37, S. 463.)
Im Kapitel zur „sogenannten ursprünglichen Akkumulation” des Kapitals im Kapital Band 1 räumt Marx mit der idyllischen Legende auf, die Fleißigen und Sparsamen seien eben besser als die Faulen und Verschwender Kapitalisten geworden. Auch erscheint hier die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise nicht als Ausdruck einer „Gesetzmäßigkeit”. Verschiedenes musste dafür vielmehr zusammenkommen: Die Trennung einer großen bäuerlichen Masse von ihren Produktionsmitteln, die Entstehung großer Geldkapitalien durch Wucher, betrügerischen Handel und Ausraubung Südamerikas und brutale Gewalt, um die Menschen zur Arbeit in der entstehenden Industrie zu prügeln.
„Tantae molis erat [so mühselig war es], die ‚ewigen Naturgesetze‘ der kapitalistischen Produktionsweise zu entbinden, den Scheidungsprozess zwischen Arbeitern und Arbeitsbedingungen zu vollziehen, auf dem einen Pol die gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmittel in Kapital zu verwandeln, auf dem Gegenpol die Volksmasse in Lohnarbeiter, in freie ‚arbeitende Arme‘ […]. Wenn das Geld, nach Augier, ‚mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt’, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend.” (MEW 23, S. 787 f.)