Die Kölner Silvesternacht und ihre Folgen
Die Vorfälle in der Kölner Silvesternacht sind viel diskutiert worden. Dieser Beitrag soll einen Überblick über unterschiedliche Aspekte geben, die dabei zur Sprache kamen. Zu verschiedenen Punkten enthält er erste Überlegungen. Der Überblick soll es erleichtern, sich mit den offenen Fragen und Aufgaben künftig weiter zu beschäftigen.
Petra Stanius
Am 5. Januar 2016, also fünf Tage nach den Vorfällen, erschienen in verschiedenen Zeitungen ähnlich lautende, zum Teil wortgleiche Artikel. Sie berichteten von einer Gruppe von 1.000 angetrunkenen, enthemmten jungen Männern arabischer oder nordafrikanischer Herkunft, die etliche Frauen bestohlen und sexuell belästigt hätten. In anderen Städten in Deutschland und auch im Ausland sei Ähnliches passiert. Später wurde diese Meldung korrigiert, und es war dann von verschiedenen Männergruppen die Rede, die aus dem Schutz der Menge heraus agiert hätten. Wer diese Männer waren und was genau geschah, ist bis heute weitgehend unklar.
Die Folgen dieser Silvesternacht sind vielfältig, und es stellen sich in dem Zusammenhang viele Fragen. Das Ereignis, auf das sie sich beziehen, liegt mehr als zwei Monate zurück, aber es handelt sich hier nicht um Probleme, die lediglich tagespolitisch von Interesse sind. Das Thema ist vielschichtig und kompliziert. Dieser Überblick soll auch helfen, die verschiedenen Fragestellungen und Überlegungen möglichst nicht unzulässig zu vermischen.
Das Versagen der Polizei
In Köln zog sich das Geschehen nach Berichten der Kölner Polizei über etwa zehn Stunden hin. Es passierte vor ihren Augen. Offenbar hat die Polizei sexuelle Übergriffe nicht nur nicht verhindert, sondern in einzelnen Fällen sogar zugeschaut.
Ist es richtig, es als Versagen der Polizei zu bezeichnen, dass sie zunächst nicht den Migrationshintergrund der mutmaßlichen Täter bekannt gegeben und mit der Verheimlichung erst den Rassismus geschürt habe? Nach einem entsprechenden Zugeständnis der Polizei trat ihre Passivität und die unterlassene Hilfeleistung in der Silvesternacht in der Berichterstattung in den Hintergrund.
Die von Gewalt betroffenen Frauen
Die Interessen und Bedürfnisse der Frauen, die von den Übergriffen in der Silvesternacht betroffen waren, waren für den Mainstream der Diskussion nicht von Bedeutung. Um die allgemeine Verurteilung sexualisierter Gewalt ging es hier sowieso nie. Sondern um die Verteidigung „unserer Frauen“ vor Migranten? Nur eine kleine Minderheit wendet sich gegen die sexuelle Gewalt, die geflüchtete Frauen in Deutschland erfahren – von männlichen Bewohnern der Flüchtlingsunterkünfte, aber auch von Außen- stehenden und vom Wachpersonal.
Die Ethnie der Täter
Welche Bedeutung kommt der Ethnie der (bekannten) Täter bzw. Verdächtigen zu? Für den Grad der Empörung über die Ereignisse und die Möglichkeit der Instrumentalisierung durch RassistInnen, aber auch für die Reaktionen von Linken und Feministinnen? Und es stellt sich auch die Frage, ob die Herkunft der Täter tatsächlich eine Rolle bei den Übergriffen gespielt hat: Nicht in Form von rassistischen Zuschreibungen wie „kriminelle Ethnien“ oder einer vor- geblich rückständigen und damit patriarchalen „islamischen Kultur“. Aber es ist von Interesse, um das Wesen der Übergriffe besser einschätzen zu können.
Die Verschränkung von Unterdrückungsverhältnissen
Die Verschränkung von Rassismus und Sexismus im Zusammenhang mit „Köln“ hat viele Schwierigkeiten verursacht, mit dem Thema angemessen umzugehen. Vereinfacht gesagt: Wer sich gegen Männergewalt äußerte, sah sich gezwungen, sich gleichzeitig von RassistInnen zu distanzieren. Wer sich von RassistInnen distanzierte, fühlte sich genötigt zu betonen, dass er oder sie aber auch Gewalt von Migranten ablehne.
Das Grundproblem ist nicht neu. Ähnliche Probleme ergeben sich zum Beispiel, wenn Faschisten dazu aufrufen, Salafisten anzugreifen. Auch hier wurde anscheinend bislang kein Weg gefunden, angemessen mit so einer Situation umzugehen.
Die Bedeutung von Religion
Spielt die Religion der Täter für die Vorfälle in Köln eine Rolle? Wie schätzen wir autoritäre Menschen, Bewegungen oder Regime ein, die sich auf eine Religion berufen? Welche Bedeutung hat für uns Religionskritik und Religionsfreiheit?
Die Qualität der Ereignisse
Viele sehen in den Vorfällen in Köln Angriffe auf Frauen von einer neuen Qualität. Sie seien mit sexuellen Übergriffen wie zum Beispiel auf dem Münchener Oktoberfest nicht vergleichbar. Ist das so? Dass tausend Männer sich über „soziale Medien“ auf der Domplatte verabredet haben, um Frauen anzugrapschen und auszurauben, wie ursprünglich vermutet, ist anscheinend nicht passiert. Können wir dennoch von einer neuen Qualität sprechen? Und wenn ja: Worin besteht sie?
Die gesellschaftliche Entwicklung
Reicht es aus, nur auf die Kölner Silvesternacht zu blicken, um das Geschehen zu beurteilen? Oder sind die Vorfälle nicht eher Ausdruck einer gesellschaftlichen Veränderung, die sich Schritt für Schritt vollzogen hat, und die nun erstmals auf diese Weise sichtbar wurde? Schon seit einigen Jahren gibt es einen Rollback, was die Anerkennung von Frauenrechten betrifft. Die neoliberale Politik der Spaltung greift. In vielen gesellschaftlichen Bereichen finden Prozesse der Entsolidarisierung statt. Die Gesellschaft verroht zusehens. Bei Gewalt gegen Frauen geht es nicht um die Befriedigung des Bedürfnisses nach Sex, sondern um die Ausübung von Macht – und zwar in allen Klassen und Schichten. Arm und Reich driften immer weiter auseinander. Die VerliererInnen werden ins Abseits gedrängt, und die Lage von Vielen ist verzweifelt.
Einige Reaktionen auf „Köln“
Nicht alle – oft irrational anmutenden – Reaktionen nach „Köln“ lassen sich allein auf rassistische Reflexe zurückführen. Die heftigen Reaktionen bereits auf die ersten Berichte lassen sich auch nicht nur durch die Größe des Ereignisses erklären. Warum wurde es von nicht Wenigen als Verharmlosung von „Köln“ gewertet, dass diese Übergriffe mit der alltäglichen Gewalt gegen Frauen in der Familie oder auf dem Oktoberfest verglichen wurden? Wie war es möglich, dass sich nicht nur rechte „Frauenschützer“, sondern Alltags-Sexisten jeglicher Couleur selbstgefällig und mit markigen Sprüchen an der Seite der Frauen – oder auch vorneweg – als Verteidiger der Frauenrechte profilieren konnten? Warum deckten sich in ganz Deutschland Frauen mit Waffen von zweifelhaftem Nutzen ein und stürmten Selbstverteidigungskurse? Was für eine „Öffentlichkeit“ war es, die allein mit 60 PressevertreterInnen das Kölner Amtsgericht stürmte, so dass auch der größte Gerichtssaal zu klein war – um dem Prozess gegen einen Taschendieb beizuwohnen? Die gleiche „Öffentlichkeit“, die angesichts der alltäglichen sexistischen Gewalt oder brennenden Unterkünften von Geflüchteten schweigt – oder dem sogar mit Sympathie begegnet?
Die Rolle der Medien
Inwieweit kann überhaupt von Folgen der Vorfälle in Köln gesprochen werden, also von Folgen realer Ereignisse? Und welchen Anteil daran hat im Unterschied dazu die Berichterstattung über die Silvesternacht? Welchen Effekt hatte diese Berichterstattung – und wem hat sie genützt?
Der Erfolg der Herrschenden
Im Windschatten der Diskussion um „kriminelle Ausländer“, die nach „Köln“ entfacht wurde, konnten umfangreiche Einschränkungen des Asylrechts mit nur wenig Gegenstimmen durchgezogen werden. Die Debatte um eine Verschärfung des Sexualstrafrechts, die von vielen Frauen schon lange gefordert wird, scheint dagegen schon im Sande verlaufen, bevor sie richtig begonnen hat. Die Polarisierung der Gesellschaft schreitet weiter voran, und die Spaltungslinien innerhalb der ArbeiterInnenklasse sind tief.
Was tun?
Unabhängig davon, was im Detail in der Kölner Silvesternacht tatsächlich vorgefallen ist, handelt es sich um ein Ereignis, das erhebliche Auswirkungen gehabt hat – und bislang sind es ausschließlich negative. Rechte Kräfte haben Auftrieb erhalten. Die sich seit einigen Jahren anscheinen langsam wieder entwickelnde Frauenbewegung in Deutschland ist dadurch in einen Abwehrkampf verwickelt worden, um sich gegen die Vereinnahmung durch Rassisten – und Sexisten – zu wehren. Und nicht wenige Linke haben sich zu schlimmen rassistischen Äußerungen hinreißen lassen.
Aber können wir nicht auch etwas aus „Köln“ und den Folgen lernen und wichtige Schlüsse daraus ziehen? Welche Aufgaben stellen sich uns, Linken und Feministinnen, mit dem Blick auf „Köln“ und die Auswirkungen? Verändern sich dadurch die Aufgaben, die wir uns ursprünglich gestellt haben?
Durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Geschehen kann „Köln“ zumindest noch diese positive Auswirkung haben.