Nord­kur­di­stan / Tür­kei Frei­heit hin­ter Bar­ri­ka­den Teil 3

Nord­kur­di­stan / Türkei

Frei­heit hin­ter Bar­ri­ka­den, Teil 3 PKK Verbot Nordkurdistan

Bei der vor­ge­zo­ge­nen Par­la­ments­wahl in der Tür­kei am 1. Novem­ber gewann die AKP, die „Par­tei für Gerech­tig­keit und Auf­schwung“ des amtie­ren­den Staats­prä­si­den­ten Recep Tayyip Erdoğan, die abso­lu­te Mehr­heit zurück. Der Jour­na­list und His­to­ri­ker Dr. Nick Brauns hat­te in den Wochen vor der Wahl die kur­di­schen Lan­des­tei­le der Tür­kei bereist. Über sei­ne Ein­drü­cke und sei­ne Ein­schät­zung der Lage nach der Wahl berich­te­te er am 21. Novem­ber bei einer Ver­an­stal­tung, zu der NAV-DEM Duis­burg (1) ein­ge­la­den hatte.

Teil 3: Die Wahl am 1. Novem­ber und Ausblick

Lin­da Martens

Damit die Teil­neh­me­rIn­nen die Wahl in der Tür­kei his­to­risch ein­ord­nen konn­ten, hat­te Nick Brauns zu Beginn der Ver­an­stal­tung einen Über­blick über die Ent­wick­lung der Tür­kei seit dem Ende der 1990er Jah­re gege­ben. Dies war die Zeit, in der die AKP an Bedeu­tung gewann.

Bei den Par­la­ments­wah­len am 7. Juni 2015 war es der jun­gen kur­di­schen HDP – der Demo­kra­ti­schen Par­tei der Völ­ker – gelun­gen, als Par­tei aller demo­kra­ti­schen Kräf­te zu über­zeu­gen. Sie erhielt 13 Pro­zent der Stim­men – eine schwe­re Schlap­pe für die AKP, die die abso­lu­te Mehr­heit ver­lor. In den fol­gen­den Mona­ten schür­te die AKP Hass und Gewalt, deren Opfer zumeist fort­schritt­li­che Kräf­te waren. Der Waf­fen­still­stand zwi­schen dem tür­ki­schen Staat und der PKK wur­de nun auch offi­zi­ell been­det, was fak­tisch bereits seit Anfang März 2015 der Fall war. (2)

Angrif­fe und Widerstand

Im kur­di­schen Städ­ten und Ort­schaf­ten wur­den ab August 2015 Aus­gangs­sper­ren gegen die Bevöl­ke­rung ver­hängt, und das Mili­tär ging mit schwe­ren Waf­fen und Scharf­schüt­zen gegen die Bewoh­ne­rIn­nen vor. Die Opfer waren Zivi­lis­tIn­nen, so auch Kin­der und alte Menschen.

In Şır­nak, Ciz­re und Diyar­bakır Sur gin­gen die Angrif­fe von Leu­ten aus, die sowohl von ihrem Aus­se­hen als auch von ihrer Men­ta­li­tät an den so genann­ten IS (3) erin­ner­ten. Nick Brauns berich­te­te, dass sie die glei­chen Schrift­zü­ge auf Häu­ser sprüh­ten, wie sie auch vom „IS“ in Roja­va (4) hin­ter­las­sen wurden.

Im Osten der Tür­kei bil­de­ten sich ähn­li­che Struk­tu­ren der Selbst­ver­wal­tung wie in Roja­va in Nord­sy­ri­en. Es gab eine gro­ße Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft für die selbst­ver­wal­te­ten Vier­tel. Die Bewoh­ne­rIn­nen errich­te­ten mit Sand­sä­cken Blo­cka­den gegen die Pan­zer des tür­ki­schen Mili­tärs. Fah­nen der kur­di­schen Volks­ver­tei­di­gungs­ein­hei­ten YPG waren zu sehen. 
Anders ver­hielt es sich in Diyar­bakır. Hier erklär­te sich nur die Alt­stadt, Sur, auto­nom. Die Ver­tei­di­gung des Stadt­teils konn­te nicht durch­ge­hal­ten wer­den, und so erteil­te die PKK einen Rück­zugs­be­fehl. Ein Teil der Bevöl­ke­rung gab der PKK die Schuld dar­an, dass ihre Stadt zer­stört wur­de, und wähl­te dar­um bei der vor­ge­zo­ge­nen Wahl am 1. Novem­ber 2015 Erdoğans AKP. Dies waren zum Bei­spiel klei­ne Ladenbesitzer.

Ande­re waren wütend auf die PKK, weil sie nicht in der Lage war, die Zivil­be­völ­ke­rung zu schüt­zen. Der Refe­rent sag­te, dies sei ernst zu neh­men, denn es sei für den Wahl­er­folg der AKP im Novem­ber von Bedeu­tung gewe­sen. Er stell­te fest: Je bes­ser die Men­schen orga­ni­siert waren, umso weni­ger Angst hat­ten sie auch. Und umso grö­ßer war die Zustim­mung für die HDP.

Die Herr­schaft Erdoğans

Die AKP gewann im Novem­ber die abso­lu­te Mehr­heit zurück. Wie ist der Wahl­er­folg der AKP zu erklä­ren? Wahl­ma­ni­pu­la­tio­nen kön­nen nach Nick Brauns nicht aus­schlag­ge­bend gewe­sen sein. Die habe es auch in der Ver­gan­gen­heit immer gegeben. 
Das Kal­kül von Erdoğan, dass er gewählt wür­de als der star­ke Mann, der wie­der für Ruhe sor­gen wür­de, sei zum Teil auf­ge­gan­gen. Jedoch sei es nicht gelun­gen, die HDP unter 10 % zu drü­cken. Sie habe eine fes­te Stamm­wäh­ler­schaft. Aller­dings habe Erdoğan die Hälf­te der Wäh­le­rIn­nen der Grau­en Wöl­fe abwer­ben kön­nen. Der Preis hier­für sei die Faschi­sie­rung der AKP.

Ist die Herr­schaft Erdoğans nun zemen­tiert? Die­ser Mei­nung war der Refe­rent nicht:
Die von ihm zu Beginn der Ver­an­stal­tung beschrie­be­ne Insta­bi­li­tät der tür­ki­schen Wirt­schaft gebe es wei­ter­hin. Frü­her oder spä­ter wür­de die Schul­den­bla­se plat­zen – und mit ihr auch der Mythos, die AKP habe für wirt­schaft­li­chen Auf­schwung gesorgt.
Der von den Wäh­le­rIn­nen erhoff­te Frie­den wür­de nicht kom­men, son­dern der Krieg wür­de wei­ter gehen – auch durch die anhal­ten­den Kämp­fe in Rojava.

Zur Wah­rung der eige­nen Inter­es­sen wür­de Russ­land es nicht zulas­sen, dass die Tür­kei in Syri­en einmarschiere.
Als herr­schafts­sta­bi­li­sie­rend kri­ti­sier­te er die Hal­tung der BRD und der EU, die Erdoğan als Hilfs­she­riff für den Flücht­lings­stopp bräuch­ten und ihn dar­um unterstützten.

In der anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on äußer­te er die Ansicht, dass ein ech­ter Frie­dens­pro­zess mög­lich sei: Die For­de­run­gen, die von Sei­ten der Kur­dIn­nen auf­ge­stellt wür­den, wie kom­mu­na­le Selbst­ver­wal­tung oder kur­disch-spra­chi­ger Schul­un­ter­richt, sei­en auch von einem kapi­ta­lis­ti­schen Staat erfüll­bar. Eine Ent­schär­fung der kur­di­schen Fra­ge könn­te sogar im Inter­es­se des Kapi­tals sein.
Er bejah­te die Fra­ge, ob er die Gefahr eines eth­ni­schen Bür­ger­kriegs in der Tür­kei sehe. Er hielt es für mög­lich, dass Erdoğan den Weg „Krieg der Tür­ken gegen die Kur­den“ wäh­len könn­te. Ein Pro­blem sei, dass eine gan­ze Gene­ra­ti­on so sozia­li­siert sei, dass sie hin­ter Erdoğans Het­ze ste­he. Auf der Sei­te der Kur­dIn­nen sah er so ein Poten­ti­al (noch) nicht. Sie hät­ten den Kampf für alle Völ­ker der Regi­on als Ziel, wie es von der PKK auf­ge­stellt wor­den sei.

Was tun?

Nick Brauns ver­trat die Auf­fas­sung, dass die Selbst­ver­tei­di­gungs­kräf­te vor­an­ge­trie­ben wer­den müss­ten – auch in der West­tür­kei. Struk­tu­ren der Selbst­ver­wal­tung müss­ten geschaf­fen bzw. aus­ge­baut wer­den. Die Men­schen soll­ten auf ihre eige­ne Kraft ver­trau­en, anstatt auf den Staat zu hof­fen. Der Auf­bau der Selbst­ver­wal­tung sei der bes­te Schutz. Auf die­se Wei­se wür­den Rück­zugs­ge­bie­te geschaf­fen, aus denen her­aus am Ende der Sturz Erdoğans mög­lich sei.

Fuß­no­ten

(1) Der bun­des­weit täti­ge Ver­ein NAV-DEM ist Ergeb­nis der Neu­or­ga­ni­sa­ti­on der Arbeit des Dach­ver­ban­des kur­di­scher Ver­ei­ne und Insti­tu­tio­nen. Er löst die Föde­ra­ti­on der Kur­di­schen Ver­ei­ne in Deutsch­land – YEK-KOM e.V. – ab. Der NAV-DEM e. V. soll die Zusam­men­ar­beit von Frau­en, Jugend­li­chen, ver­schie­de­nen kur­di­schen Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten und der ins­ge­samt 260 Ver­ei­ne und Ein­rich­tun­gen koor­di­nie­ren. Die pri­mä­re Ent­schei­dungs­be­fug­nis liegt dabei bei den Gesell­schafts­zen­tren auf der loka­len Ebe­ne. Ziel der Neu­or­ga­ni­sie­rung ist die Orga­ni­sie­rung und För­de­rung der Demo­kra­tie an der Basis. Mehr Infor­ma­tio­nen unter www.navdem.com.
(2) Sie­he hier­zu die bei­den vor­aus­ge­gan­ge­nen Fol­gen. Teil 1 ist erschie­nen in Avan­ti O. Nr. 16 (Dezem­ber 2015), Teil 2 in Avan­ti O. Nr. 17 (Janu­ar 2016).
(3) IS steht für „Isla­mi­scher Staat“. Sie­he hier­zu auch den Arti­kel „Nen­nen wir es doch ein­fach Daesch!“ in Avan­ti O. Nr. 16.
(4) Roja­va, West­kur­di­stan, ist eine Regi­on im Nor­den Syri­ens. Nach dem Aus­bruch des Bür­ger­kriegs in Syri­en began­nen 2012 die Bewoh­ne­rIn­nen von Roja­va mit Erfolg, demo­kra­ti­sche Selbst­ver­wal­tungs­struk­tu­ren auf­zu­bau­en. Sie sind ein bevor­zug­tes mili­tä­ri­sches Angriffs­ziel des „IS“, des Daesch.

 Der Refe­rent

Dr. Nick Brauns wur­de 1971 in Mün­chen gebo­ren und lebt und arbei­tet heu­te in Berlin.
Türkei/Kurdistan gehört zu sei­nen Schwer­punkt­the­men, und er unter­nimmt regel­mä­ßig poli­ti­sche Stu­di­en­rei­sen in den Nahen Osten.

Ein wei­te­res Spe­zi­al­ge­biet von Nick Brauns ist die Geschich­te der Arbei­te­rIn­nen­be­we­gung. So hat er in Neu­er Geschich­te über die Rote Hil­fe Deutsch­lands promoviert.
Auf sei­ner Web­site fin­det Ihr neben Infor­ma­tio­nen zu sei­ner Per­son auch Foto­re­por­ta­gen und zahl­rei­che Tex­te unter ande­rem über den Nahen Osten.

Es lohnt sich, die­se Web­site anzu­schau­en, wenn Ihr mehr Infor­ma­tio­nen zum Bei­spiel über die Situa­ti­on in der Tür­kei vor und nach den letz­ten Wah­len, über die Ver­tei­di­gung der kur­di­schen Stadt Kobanê (Roja­va, Syri­en) gegen den so genann­ten IS und über die Lebens­be­din­gun­gen in Kur­di­stan haben möchtet:

www.nikolaus-brauns.de

 

Alle 3 Tei­le und der Nach­trag von Nick Brauns zum Download

aus der Ober­hau­se­ner Bei­la­ge zur Avan­ti 242, März 2016
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