Nordkurdistan / Türkei
Freiheit hinter Barrikaden, Teil 2
Der „Friedensprozess“ und die Wahl am 7. Juni 2015
Linda Martens
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl in der Türkei am 1. November gewann die AKP, die „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ des amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die absolute Mehrheit zurück. Der Journalist und Historiker Dr. Nick Brauns hatte in den Wochen vor der Wahl die kurdischen Landesteile der Türkei bereist. Über seine Eindrücke und seine Einschätzung der Lage nach der Wahl berichtete er am 21. November bei einer Veranstaltung, zu der NAV-DEM1 Duisburg eingeladen hatte.
Zu Beginn gab Nick Brauns den TeilnehmerInnen der Veranstaltung einen Überblick über die Entwicklung der Türkei seit dem Ende der 1990er Jahre – der Zeit, wo die AKP begann, bedeutsam zu werden. Denn erst durch die historische Einordnung der Wahl würden Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten für fortschrittliche Kräfte sichtbar werden (siehe Avanti O. Nr. 16, Dezember 2015).
Türkei: Einige Anmerkungen zur aktuellen Lage
Die Veranstaltung mit Nick Brauns, von der wir unten berichten, liegt mittlerweile anderthalb Monate zurück. Das Thema hat jedoch nichts an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil, die Situation hat sich seitdem weiter verschärft:
Unter dem Vorwand, die Türkei bei der Bekämpfung des „IS“ zu unterstützen, stärkt die NATO Erdoğan den Rücken. In diesem Rahmen und mit dieser Begründung beteiligt sich Deutschland inzwischen ebenfalls am Syrienkrieg.
Ungeachtet der schweren Menschenrechtsverletzungen durch das AKP-Regime wird Erdoğan von der EU die Aufgabe zugedacht, Flüchtlinge an der Überschreitung der EU-Außengrenze zu hindern und so von Europa fernzuhalten. Die EU hat Erdoğan drei Milliarden Euro angeboten für die Errichtung von Grenzzäunen und vergleichbare Maßnahmen.
Kritische Worte zum stetig fortschreitenden Demokratieabbau durch die AKP und zu der maßlosen Repression gegen kritische Menschen sind kaum zu vernehmen. Von der deutschen Regierung wird im Gegenteil der Krieg von Erdoğan gegen die kurdische Bevölkerung und das Massaker, dass die türkische Armee aktuell im Südosten der Türkei anrichtet, aktiv unterstützt, indem sie Erdoğan als Partner akzeptiert. Gleichzeitig werden Menschen, die gegen Erdoğans Politik Widerstand leisten, auch noch von dieser Seite bekämpft. Tatsächliche oder vermeintliche
Mitglieder und UnterstützerInnen der ArbeiterInnenpartei Kurdistans (PKK), die sich sowohl dem Daesch als auch dem autoritären, mörderischen Vorgehen von Erdoğan widersetzen, werden in der BRD mit dem Gummiparagrafen 129b als TerroristInnen diffamiert und strafrechtlich verfolgt.
Mitgliedern der revolutionären türkischen Musikgruppe Grup Yorum wurde die Einreise verweigert, als sie für ein Konzert gegen Rassismus am 14.11.2015 nach Oberhausen kommen wollten. Am 28.07. 2015 wurden in Stuttgart gar bei einem 129b-Prozess vier türkische Linke, denen Mitgliedschaft in der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei - Front) vorgeworfen wird, zu Haftstrafen zwischen 4 Jahren 9 Monaten und 6 Jahren verurteilt. Die Veranstaltung des Konzerts mit Grup Yorum unter dem Titel „Ein Herz, eine Stimme gegen Rassismus“ am 08.06.2013, an dem etwa 12.000 Menschen teilgenommen hatten, gehörte dabei zu den Hauptvorwürfen.
Es ist eine Aufgabe der fortschrittlichen Kräfte in Deutschland, gegen die Beteiligung von deutschen Soldaten am schmutzigen „Krieg gegen den Terror“ zu protestieren und die Beendigung der Unterstützung Erdoğans durch die hiesige Regierung zu fordern.
L.M.
Der „Friedensprozess“ ab 2008
Ehe er auf die diesjährigen Wahlen in der Türkei einging, fasste der Referent den Verlauf des so genannten Friedensprozesses zusammen:
Seit 1984 führten Einheiten der ArbeiterInnenpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei einen bewaffneten Befreiungskampf. Zigtausende Menschen – zumeist KurdInnen – wurden in dessen Verlauf getötet, Abdullah Öcalan, Vorsitzender der PKK, wurde verhaftet und ist seit dem 15. Februar 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer inhaftiert.
Bereits 2008 / 2009 hatte es in Oslo Geheimverhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK gegeben. 2012 ging die Guerilla in die Offensive. Kurdische politische Gefangene traten massenhaft in den Hungerstreik. Es gelang ihnen durchzusetzen, dass die offiziellen Verhandlungen ab diesem Zeitpunkt mit dem von ihr gewünschten Verhandlungsführer Abdullah Öcalan geführt wurden.
In den Verhandlungen verfolgte die PKK das Ziel, die kurdische Frage zu lösen, während das Interesse der türkischen Regierung darin bestand, die PKK zu entwaffnen. So spielte die AKP auf Zeit und machte Versprechungen, unternahm aber keine praktischen Schritte, um mit der PKK zu einer Einigung zu kommen.
Zwei Jahre lang gab es zwischen den beiden Parteien keine bewaffneten Auseinandersetzungen. Die PKK räumte ihre Stellungen, und die türkische Regierung errichtete an denselben Orten militärische Stützpunkte. Die PKK baute Strukturen auf, die mit Kommunen vergleichbar waren und organisierte Selbstschutzgruppen.
Während der Verhandlungen konnte Abdullah Öcalan keinen Kontakt zu seinen Leuten aufnehmen. Es gab keine BeobachterInnen im Friedensprozess, also auch keine Kontrolle darüber, dass Absprachen eingehalten wurden.
Am 28. Februar 2015 schien mit dem 10-Punkte-Protokoll der Durchbruch erreicht. Jedoch bereits einen Tag später erklärte Erdoğan das Protokoll für ungültig. Bereits zu diesem Zeitpunkt war der Friedensprozess faktisch beendet: Seit März 2015 gab es keinen Kontakt mehr zwischen Erdoğan und Öcalan.
Die Parlamentswahlen im Juni 2015
Mit diesem Punk schloss Nick Brauns seine Darstellung von der Entwicklung der Türkei ab und ging dazu über, die heutige Situation zu erläutern:
Um eine Mehrheit für die Parlamentswahlen im Juni 2015 zu gewinnen, orientierte Erdoğan sowohl auf konservative Kurden als auch auf türkische Nationalisten – ein politischer Spagat.
Die 2012 gegründete mehrheitlich kurdische HDP – die Demokratische Partei der Völker – wollte er mit einem Kuhhandel für sich gewinnen. Er machte ihr Zugeständnisse für den Fall, dass die HDP ihre Zustimmung zu einer Verfassungsänderung geben und damit den Weg für eine Präsidialdiktatur frei machen würde. Die HDP wies dieses Ansinnen zurück.
Die AKP reagierte auf die Ablehnung mit Terror gegen die HDP, mit Einschüchterungen und Provokationen. Dennoch erhielt die HDP bei der Wahl am 7. Juni 2015 13 Prozent der Stimmen. Sie war im Vorfeld der Wahl überzeugend als Partei aller demokratischen Kräfte, die für politische und soziale Rechte von Ausgebeuteten und Unterdrückten kämpfen, aufgetreten.
Für die AKP bedeutete der Wahlerfolg der HDP eine schwere Schlappe. Sie verlor die absolute Mehrheit. Aus der Sicht von Erdoğan war das Wahlergebnis ein Fehler, der durch Neuwahlen korrigiert werden musste.
Erdoğans Strategie der Spannung
Um dies zu erreichen, griff er nach der Schilderung des Referenten zu einer Strategie der Spannung:
In den folgenden Monaten schürte Erdoğan Chaos und Gewalt. Angriffsziele waren dabei vornehmlich seine politischen GegnerInnen. Er handelte in der Annahme, dass dieses Vorgehen nicht der AKP schaden, sondern vielmehr den Ruf nach einem starken Mann, der für Ruhe sorgen soll, lauter werden lassen würde. Denn die Menschen in der Türkei sehnen sich nach Frieden.
In diese Zeit fiel auch das Selbstmordattentat des „IS“2 am 20. Juli 2015 in der türkischen Grenzstadt Suruç. Mehr als 30 AktivistInnen einer sozialistischen pro-kurdischen Jugendorganisation, die in der Stadt waren, um über Wiederaufbaupläne für die benachbarte syrische Grenzstadt Kobanê zu diskutieren, kamen dabei ums Leben. Eine „IS“-Zelle aus der südosttürkischen Provinz Adiyaman konnte diesen Anschlag quasi unter den Augen der türkischen Polizei und der Geheimdienste vorbereiten und durchführen.
Die PKK tötete daraufhin zwei türkische Polizisten, denen sie Kooperation mit dem „IS“ vorwarf. Erst jetzt erklärte Erdoğan den Friedensprozess offiziell für beendet. Die PKK kündigte ebenfalls den Waffenstillstand auf.
Erdoğan gab der HDP die Schuld an den Toten von Suruç: Angeblich wäre das Attentat nicht passiert, wenn die AKP bei der Wahl mehr Stimmen erhalten hätte.
Ein faschistischer Mob griff Büros der HDP, Wohnungen ihrer Mitglieder und ihre die UnterstützerInnen an. Die Angriffe gingen jedoch nicht von Grauen Wölfen aus, sondern von einer Gruppe, die zuvor lediglich als ein Art Folkloretruppe in Erscheinung getreten war. Diese wurde von der AKP zu einer Straßenarmee umgebaut – zu Erdoğans persönlichen „Grauen Wölfen“.
Auch in Nordkurdistan setzt die türkische Armee seitdem schwere Waffen und Scharfschützen ein. Ziel dieser Angriffe sind nicht AktivistInnen, sondern ZivilistInnen. Auch Kinder und alte Menschen werden von Scharfschützen erschossen. Gegen die Bevölkerung werden Ausgangssperren verhängt.
Auf Fotos, die während des Referats an die Wand geworfen wurden, waren aufgetürmte Sandsäcke in den Straßen zu sehen. Die Bilder stammten nicht aus Syrien, sondern aus dem Osten der Türkei.
Fortsetzung folgt.
Fußnoten
1 Der bundesweit tätige Verein NAV-DEM ist Ergebnis der Neuorganisation der Arbeit des Dachverbandes kurdischer Vereine und Institutionen. Er löst die Föderation der Kurdischen Vereine in Deutschland – YEK-KOM e.V. – ab. Der NAV-DEM e. V. soll die Zusammenarbeit von Frauen, Jugendlichen, verschiedenen kurdischen Religionsgemein- schaften und der insgesamt 260 Vereine und Einrichtungen koordinieren. Die primäre Entscheidungsbefugnis liegt dabei bei den Gesellschaftszentren auf der lokalen Ebene. Ziel der Neuorganisierung ist die Organisierung und Förderung der Demokratie an der Basis. Mehr Informationen unter www.navdem.com.
2 IS steht für „Islamischer Staat“. Siehe hierzu auch den Artikel „Nennen wir es doch einfach Daesch!“ in Avanti O. Nr. 16.
Der Referent
Dr. Nick Brauns wurde 1971 in München geboren und lebt und arbeitet heute in Berlin. Türkei/Kurdistan gehört zu seinen Schwerpunktthemen, und er unternimmt regelmäßig politische Studienreisen in den Nahen Osten. Ein weiteres Spezialgebiet von Nick Brauns ist die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. So hat er in Neuer Geschichte über die Rote Hilfe Deutschlands promoviert. Auf seiner Website findet Ihr neben Informationen zu seiner Person auch Fotoreportagen und zahlreiche Texte unter anderem über den Nahen Osten. Es lohnt sich, diese Website anzuschauen, wenn Ihr mehr Informationen zum Beispiel über die Situation in der Türkei vor und nach den letzten Wahlen, über die Verteidigung der kurdischen Stadt Kobanê (Rojava, Syrien) gegen den so genannten IS und über die Lebensbedingungen in Kurdistan haben möchtet: www.nikolaus-brauns.de
Alle 3 Teile und der Nachtrag von Nick Brauns zum Download