Kurt-Dieter Jünger
Die kapitalistische Krise ist eine regelmäßig wiederkehrende Seuche, deren Verwüstungen ca. alle 10 Jahre den sogenannten freien Markt ausschalten und den Boden mit menschlichen Trümmern übersäen (siehe u.a. Emile Zola und Ernest Mandel).
Ignorieren, leugnen, verharmlosen, vertuschen, verwirren, Schuldige suchen und Vermögen umverteilen, das konnten wir täglich weltweit auf allen Kanälen sehen und hören.
Wir hätten aus der Geschichte lernen können
Die Pestseuche existiert bereits seit mehr als 2.000 Jahren und wütete im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) in Italien, Mailand. Am Ende stand der Westfälische Frieden zu Münster mit entsprechenden Länderumverteilungen zu Lasten der Bauern, Soldaten und Kleingewerbetreibenden.
Die Pest oder auch die angeblich bereits bezwungen Pocken können bei hygienischer, medizinischer Unter-/Mangelversorgung wieder kommen. Der Überlebens-Verteilungskampf kann dann nur noch mit diktatorischen, militärischen Mitteln gesichert werden. Die Spanische Grippe aus dem Jahr 1918 forderte ca. 50 bis 100 Millionen Tote, und binnen weniger Wochen waren ein Drittel der Weltbevölkerung erkrankt.
Die Finanzkrise 2008/2009, Ebola, SARS und jetzt eine Corona-Pandemie. Viele deutsche und internationale Virolog*innen/Mediziner*innen befürchteten bereits vor Jahren eine weltumspannende Virus-Gefahr und forderten leider erfolglos entsprechende Forschungs- und Sachmittel.
Die Mittel wurden eher noch gekürzt, die KRANKENHÄUSER PRIVATISIERT und mit Fallpauschalen, Personal- und Bettenrationalisierung überzogen.
Demgegenüber wurden die Militärausgaben dramatisch erhöht, um „unsere Grenzen“ in Mali und Afghanistan verteidigen zu können. Das ist ein Hohn, Betrug an den Wählenden, Vorgaukeln von Sicherheiten und völlig unnütz für alle Bevölkerungsteile.
Die Erfahrungen aus jenen Epochen bereiten den Mächtigen heute Angst und große Sorgen, weil die Grippe, das Virus alle Machtverhältnisse ins Wanken und gar zum Einsturz bringen kann. Der Ruf fast aller bundesrepublikanischen Ministerpräsident*innen nach Vorsichtsmaßnahmen war deshalb durchaus verständlich.
Wir können nicht sagen, wir hätten nichts gewusst.
80 % der schlecht bezahlten Dienstleistenden sind Frauen, auf deren unentgeltliche Familienfürsorge die Politik auf perfideste Weise setzt, um sie am Ende in die Altersarmut zu entlassen.
Nach dem Lockdown/Shutdown verspürten das internationale Kapital und die gesamte Arbeiter*innenklasse eine allgemeine Unruhe. Der Unmut konnte dank zugesagten Billionen Euro an Überbrückungskrediten und verlängertem Kurzarbeitergeld sowie den Einschränkungen freiheitlicher Grundrechte (z.B. 1. Mai-Demonstrationen, Fridays for Future etc.) kanalisiert werden. Die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes wurde zwar bereits von Verfassungsrechtlern und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie als nicht verfassungskonform eingestuft. Geändert hat sich bisher aber nichts.
„Findige“ sahen ihre Chancen, sich eine verfehlte Industrie- und Landwirtschaftspolitik – ohne jegliche Gegenleistungen – staatlich finanzieren zu lassen und darüber hinaus Arbeitnehmerrechte sowie deren Einkommensverhältnisse deutlich zu verschlechtern.
Die egoistischen, unsozialen Hamsterkäufe haben ca. die Hälfte der Bevölkerung erschreckt und die apolitische, achselzuckende Hinnahme sowie teils herablassende Ratlosigkeit der jüngeren Generation über die Tatsachen einer auseinanderdriftenden Gesellschaft und Welt irritiert.
Manchmal empfinden wir als ältere Generation Verzweiflung über das totale Abhandenkommen von übergreifenden politischen Ideen/Idealen und den absoluten Verlust des Bewusstseins, was Ausbeutung der Natur, der Frauen, der Länder des Südens durch unsere Kultur bedeutet.
Ein ganzer Kontinent, Afrika, wird in der Berichterstattung marginalisiert, ebenso wie Südamerika oder Indien. Der Eurozentrismus und Nationalismus treibt unwirkliche Blüten, gleichwohl versucht die WHO gemeinsame Gegenstrategien auch ohne die USA und Russland.
Was sollten wir ganz konkret ändern?
Eine gerechtere, deutlich höhere Bezahlung, Personalaufstockungen und drastische Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich für gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten (Pflege, Bildung, Feuerwehr, Reinigungsdienste etc.). Alles hinreichend bekannte Forderungen.
Ich möchte darüber hinaus bei der in der Krise geleisteten Solidarität von Nachbarschaftshilfe, Kinderbetreuung usw. ansetzen und an die Geschichte des Bauens erinnern, wo innerhalb des Bauhauses die Gesellschaftsvorstellungen jenseits von Zwangskollektivierung und Vereinzelung entwickelt wurden. Im Bauhaus waren sozialistische Vorstellungen präsent, die eine Aufhebung der Klassen- und Geschlechtergegensätze parallel zu einer Aufhebung des Gegensatzes von Industrie und Kunsthandwerk vorstellten. Parallel mit dem Dadaismus richteten sich die Entwürfe/Angriffe gegen den verlogenen bürgerlichen Mief der damaligen Zeit.
Aufgrund politischer Auseinandersetzungen um die Rolle von Frauen, Familie und geschlechtlicher Arbeitsteilung fiel die Entscheidung gegen „Familien-Einküchenhäuser“ zu Gunsten des Konzepts der „rationalen Küche/Frankfurter Küche“.
Die Idee des 20. Jahrhunderts war, in genossenschaftlichen großen Wohnblöcken und Mietshäusern mit Gemeinschaftszentralküchen, Zentralwaschkellern, Kinderkrippen, Kindergärten und Versammlungsräumen günstiges Wohnen unter solidarischem Miteinander zu verwirklichen.
Herr Prof. Dr. Roland Günter, langjähriger Vorsitzender des Werkbundes und Retter der ältesten Arbeitersiedlung des Ruhrgebietes, Eisenheim in Oberhausen, bekannte sich immer zum „neuen Bauen“.
Die Idee setzte sich bis auf wenige Ausnahmen (z.B. der Heimhof in Wien) nicht durch.
Die Diskussion um Wohnungsbau und Frauenfrage wurde zugunsten von Kleinstwohnungen und Einfamilienscheibchenhäuschen entschieden. Eine Normierung und Rationalität von Küchen wurde entsprechend der Arbeitsökonomie in Fabriken der durchschnittlichen Größe der Frauen angepasst.
Die Entscheidung für eine individualistische Familienordnung war gefallen. Der Gemeinschaftsgedanke von Wohngruppen als wichtigem Bindungsmotiv der Selbsterziehung statt einzelner Paarbildung und Kleinfamilie wurde konterkariert.
Die Frauen wurden mit hauswirtschaftlichen Arbeiten in separaten Miniküchen betraut und Häuslichkeit ausschließlich der Weiblichkeit zugeordnet. Die Topküchen von XXXL Rück, Poggenpohl u.a. ändern nichts an der Abwertung reproduktiver, ungleich verteilter Hausarbeit.
Deshalb müssen sich Familien- und Baupolitik grundsätzlich ändern und die wünschenswerte Pluralität in größeren kommunikativen Gemeinschaften (WGs, Mehrgenerationen, Alleinlebende, Paare etc.) fördern statt isolierende Seniorenresidenzen, hässliche, standardisierte, winzige Einfamilienhäuschen, teure Hipster-Wohnblöcke à la Düsseldorf – ohne (Elektro-)Fahrrad- oder Carsharing-Angebote, dafür mit Autotiefgaragenabstellplätzen, dafür ohne öffentliche Toiletten oder kostenfreie Trinkwasserspender.
Baugenehmigungen dürften nur noch erteilt werden, wenn gleichzeitig der Flächenverbrauch drastisch reduziert und eine gemeinschaftliche Infrastruktur verpflichtend mitgeplant wird.
Es könnten Parkausweise wie in Stockholm mit über 1.000,00 Euro jährlich bezahlt werden müssen oder wie in Dänemark eine Zulassungssteuer von einmalig ca. 85 % des Neuwagenpreises zu entrichten sein.
Möglichkeiten sind derer Viele.
Dass wir diese globale, multidimensionale Krise bisher solidarisch meistern konnten, zeigt auch, dass wir sie durch eine Solidarwirtschaft im Bereich Bauen/Wohnen/Leben/Essen/Reisen, einer partizipativen Demokratie und der Rettung des Ökosystems überwinden können.
Wir können nur mit dem Sänger, Dichter und Literaturnobelpreisträger von 2017, Bob Dylan, gemeinsam das Lied anstimmen: „The Times They Are a-Changin’“.
Neue, gesellschaftliche Lebensentwürfe haben gerade jetzt ihre Zeit, weil wir immer mehr von der Gesellschaft verstehen (siehe auch Theodor W. Adorno, Minima Moralia).
Wann, wenn nicht jetzt, müssen wir öffentlich über eine an den Menschen und der Natur ausgerichtete, solidarische Politik nachdenken, anstatt wieder der am Profit und den Kapitalverwertungsinteressen weniger Vermögender interessierten Klientelpolitik auf Teufel komm raus auf den Leim zu gehen.
All das zu verstehen ist eine Sache, es zu verändern oder gar zu beseitigen, wissen wir aus unseren eigenen, persönlichen Erfahrungen, ist nochmals eine ganz andere Angelegenheit.
Also packen wir es an!
Venceremos!