Nach der Kri­se ist vor der Kri­se! Jeder Tag ist Mut­ter­tag! 100 Jah­re Bau­haus für die Frauen!

Kurt-Die­ter Jünger

Die kapi­ta­lis­ti­sche Kri­se ist eine regel­mä­ßig wie­der­keh­ren­de Seu­che, deren Ver­wüs­tun­gen ca. alle 10 Jah­re den soge­nann­ten frei­en Markt aus­schal­ten und den Boden mit mensch­li­chen Trüm­mern über­sä­en (sie­he u.a. Emi­le Zola und Ernest Mandel).
Igno­rie­ren, leug­nen, ver­harm­lo­sen, ver­tu­schen, ver­wir­ren, Schul­di­ge suchen und Ver­mö­gen umver­tei­len, das konn­ten wir täg­lich welt­weit auf allen Kanä­len sehen und hören.

Essen, April 2020. Foto: Avanti O.

Essen, April 2020. Foto: Avan­ti O.

Wir hät­ten aus der Geschich­te ler­nen können
Die Pest­seu­che exis­tiert bereits seit mehr als 2.000 Jah­ren und wüte­te im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg (1618-1648) in Ita­li­en, Mai­land. Am Ende stand der West­fä­li­sche Frie­den zu Müns­ter mit ent­spre­chen­den Län­der­um­ver­tei­lun­gen zu Las­ten der Bau­ern, Sol­da­ten und Kleingewerbetreibenden.
Die Pest oder auch die angeb­lich bereits bezwun­gen Pocken kön­nen bei hygie­ni­scher, medi­zi­ni­scher Unter-/Man­gel­ver­sor­gung wie­der kom­men. Der Über­le­bens-Ver­tei­lungs­kampf kann dann nur noch mit dik­ta­to­ri­schen, mili­tä­ri­schen Mit­teln gesi­chert wer­den. Die Spa­ni­sche Grip­pe aus dem Jahr 1918 for­der­te ca. 50 bis 100 Mil­lio­nen Tote, und bin­nen weni­ger Wochen waren ein Drit­tel der Welt­be­völ­ke­rung erkrankt.

Die Finanz­kri­se 2008/2009, Ebo­la, SARS und jetzt eine Coro­na-Pan­de­mie. Vie­le deut­sche und inter­na­tio­na­le Virolog*innen/Mediziner*innen befürch­te­ten bereits vor Jah­ren eine welt­um­span­nen­de Virus-Gefahr und for­der­ten lei­der erfolg­los ent­spre­chen­de For­schungs- und Sachmittel.
Die Mit­tel wur­den eher noch gekürzt, die KRANKENHÄUSER PRIVATISIERT und mit Fall­pau­scha­len, Per­so­nal- und Bet­ten­ra­tio­na­li­sie­rung überzogen.
Dem­ge­gen­über wur­den die Mili­tär­aus­ga­ben dra­ma­tisch erhöht, um „unse­re Gren­zen“ in Mali und Afgha­ni­stan ver­tei­di­gen zu kön­nen. Das ist ein Hohn, Betrug an den Wäh­len­den, Vor­gau­keln von Sicher­hei­ten und völ­lig unnütz für alle Bevölkerungsteile.
Die Erfah­run­gen aus jenen Epo­chen berei­ten den Mäch­ti­gen heu­te Angst und gro­ße Sor­gen, weil die Grip­pe, das Virus alle Macht­ver­hält­nis­se ins Wan­ken und gar zum Ein­sturz brin­gen kann. Der Ruf fast aller bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Ministerpräsident*innen nach Vor­sichts­maß­nah­men war des­halb durch­aus verständlich.
Wir kön­nen nicht sagen, wir hät­ten nichts gewusst.

80 % der schlecht bezahl­ten Dienst­leis­ten­den sind Frau­en, auf deren unent­gelt­li­che Fami­li­en­für­sor­ge die Poli­tik auf per­fi­des­te Wei­se setzt, um sie am Ende in die Alters­ar­mut zu entlassen.
Nach dem Lockdown/Shutdown ver­spür­ten das inter­na­tio­na­le Kapi­tal und die gesam­te Arbeiter*innenklasse eine all­ge­mei­ne Unru­he. Der Unmut konn­te dank zuge­sag­ten Bil­lio­nen Euro an Über­brü­ckungs­kre­di­ten und ver­län­ger­tem Kurz­ar­bei­ter­geld sowie den Ein­schrän­kun­gen frei­heit­li­cher Grund­rech­te (z.B. 1. Mai-Demons­tra­tio­nen, Fri­days for Future etc.) kana­li­siert wer­den. Die Novel­lie­rung des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes wur­de zwar bereits von Ver­fas­sungs­recht­lern und dem Komi­tee für Grund­rech­te und Demo­kra­tie als nicht ver­fas­sungs­kon­form ein­ge­stuft. Geän­dert hat sich bis­her aber nichts.

Fin­di­ge“ sahen ihre Chan­cen, sich eine ver­fehl­te Indus­trie- und Land­wirt­schafts­po­li­tik – ohne jeg­li­che Gegen­leis­tun­gen – staat­lich finan­zie­ren zu las­sen und dar­über hin­aus Arbeit­neh­mer­rech­te sowie deren Ein­kom­mens­ver­hält­nis­se deut­lich zu verschlechtern.
Die ego­is­ti­schen, unso­zia­len Hams­ter­käu­fe haben ca. die Hälf­te der Bevöl­ke­rung erschreckt und die apo­li­ti­sche, ach­sel­zu­cken­de Hin­nah­me sowie teils her­ab­las­sen­de Rat­lo­sig­keit der jün­ge­ren Gene­ra­ti­on über die Tat­sa­chen einer aus­ein­an­der­drif­ten­den Gesell­schaft und Welt irritiert.

Manch­mal emp­fin­den wir als älte­re Gene­ra­ti­on Ver­zweif­lung über das tota­le Abhan­den­kom­men von über­grei­fen­den poli­ti­schen Ideen/Idealen und den abso­lu­ten Ver­lust des Bewusst­seins, was Aus­beu­tung der Natur, der Frau­en, der Län­der des Südens durch unse­re Kul­tur bedeutet.
Ein gan­zer Kon­ti­nent, Afri­ka, wird in der Bericht­erstat­tung mar­gi­na­li­siert, eben­so wie Süd­ame­ri­ka oder Indi­en. Der Euro­zen­tris­mus und Natio­na­lis­mus treibt unwirk­li­che Blü­ten, gleich­wohl ver­sucht die WHO gemein­sa­me Gegen­stra­te­gien auch ohne die USA und Russland.

Was soll­ten wir ganz kon­kret ändern?
Eine gerech­te­re, deut­lich höhe­re Bezah­lung, Per­so­nal­auf­sto­ckun­gen und dras­ti­sche Arbeits­zeit­ver­kür­zun­gen bei vol­lem Lohn­aus­gleich für gesell­schaft­lich not­wen­di­ge Tätig­kei­ten (Pfle­ge, Bil­dung, Feu­er­wehr, Rei­ni­gungs­diens­te etc.). Alles hin­rei­chend bekann­te Forderungen.
Ich möch­te dar­über hin­aus bei der in der Kri­se geleis­te­ten Soli­da­ri­tät von Nach­bar­schafts­hil­fe, Kin­der­be­treu­ung usw. anset­zen und an die Geschich­te des Bau­ens erin­nern, wo inner­halb des Bau­hau­ses die Gesell­schafts­vor­stel­lun­gen jen­seits von Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung und Ver­ein­ze­lung ent­wi­ckelt wur­den. Im Bau­haus waren sozia­lis­ti­sche Vor­stel­lun­gen prä­sent, die eine Auf­he­bung der Klas­sen- und Geschlech­ter­ge­gen­sät­ze par­al­lel zu einer Auf­he­bung des Gegen­sat­zes von Indus­trie und Kunst­hand­werk vor­stell­ten. Par­al­lel mit dem Dada­is­mus rich­te­ten sich die Entwürfe/Angriffe gegen den ver­lo­ge­nen bür­ger­li­chen Mief der dama­li­gen Zeit.
Auf­grund poli­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die Rol­le von Frau­en, Fami­lie und geschlecht­li­cher Arbeits­tei­lung fiel die Ent­schei­dung gegen „Fami­li­en-Ein­kü­chen­häu­ser“ zu Guns­ten des Kon­zepts der „ratio­na­len Küche/Frankfurter Küche“.

Die Idee des 20. Jahr­hun­derts war, in genos­sen­schaft­li­chen gro­ßen Wohn­blö­cken und Miets­häu­sern mit Gemein­schafts­zen­tral­kü­chen, Zen­tral­wasch­kel­lern, Kin­der­krip­pen, Kin­der­gär­ten und Ver­samm­lungs­räu­men güns­ti­ges Woh­nen unter soli­da­ri­schem Mit­ein­an­der zu verwirklichen.
Herr Prof. Dr. Roland Gün­ter, lang­jäh­ri­ger Vor­sit­zen­der des Werk­bun­des und Ret­ter der ältes­ten Arbei­ter­sied­lung des Ruhr­ge­bie­tes, Eisen­heim in Ober­hau­sen, bekann­te sich immer zum „neu­en Bauen“.
Die Idee setz­te sich bis auf weni­ge Aus­nah­men (z.B. der Heim­hof in Wien) nicht durch.
Die Dis­kus­si­on um Woh­nungs­bau und Frau­en­fra­ge wur­de zuguns­ten von Kleinst­woh­nun­gen und Ein­fa­mi­li­en­scheib­chen­häus­chen ent­schie­den. Eine Nor­mie­rung und Ratio­na­li­tät von Küchen wur­de ent­spre­chend der Arbeits­öko­no­mie in Fabri­ken der durch­schnitt­li­chen Grö­ße der Frau­en angepasst.
Die Ent­schei­dung für eine indi­vi­dua­lis­ti­sche Fami­li­en­ord­nung war gefal­len. Der Gemein­schafts­ge­dan­ke von Wohn­grup­pen als wich­ti­gem Bin­dungs­mo­tiv der Selbst­er­zie­hung statt ein­zel­ner Paar­bil­dung und Klein­fa­mi­lie wur­de konterkariert.

Die Frau­en wur­den mit haus­wirt­schaft­li­chen Arbei­ten in sepa­ra­ten Mini­kü­chen betraut und Häus­lich­keit aus­schließ­lich der Weib­lich­keit zuge­ord­net. Die Top­kü­chen von XXXL Rück, Pog­gen­pohl u.a. ändern nichts an der Abwer­tung repro­duk­ti­ver, ungleich ver­teil­ter Hausarbeit.
Des­halb müs­sen sich Fami­li­en- und Bau­po­li­tik grund­sätz­lich ändern und die wün­schens­wer­te Plu­ra­li­tät in grö­ße­ren kom­mu­ni­ka­ti­ven Gemein­schaf­ten (WGs, Mehr­ge­ne­ra­tio­nen, Allein­le­ben­de, Paa­re etc.) för­dern statt iso­lie­ren­de Senio­ren­re­si­den­zen, häss­li­che, stan­dar­di­sier­te, win­zi­ge Ein­fa­mi­li­en­häus­chen, teu­re Hips­ter-Wohn­blö­cke à la Düs­sel­dorf – ohne (Elektro-)Fahrrad- oder Car­sha­ring-Ange­bo­te, dafür mit Auto­tief­ga­ra­gen­ab­stell­plät­zen, dafür ohne öffent­li­che Toi­let­ten oder kos­ten­freie Trinkwasserspender.
Bau­ge­neh­mi­gun­gen dürf­ten nur noch erteilt wer­den, wenn gleich­zei­tig der Flä­chen­ver­brauch dras­tisch redu­ziert und eine gemein­schaft­li­che Infra­struk­tur ver­pflich­tend mit­ge­plant wird.
Es könn­ten Park­aus­wei­se wie in Stock­holm mit über 1.000,00 Euro jähr­lich bezahlt wer­den müs­sen oder wie in Däne­mark eine Zulas­sungs­steu­er von ein­ma­lig ca. 85 % des Neu­wa­gen­prei­ses zu ent­rich­ten sein.
Mög­lich­kei­ten sind derer Viele.

Dass wir die­se glo­ba­le, mul­ti­di­men­sio­na­le Kri­se bis­her soli­da­risch meis­tern konn­ten, zeigt auch, dass wir sie durch eine Soli­dar­wirt­schaft im Bereich Bauen/Wohnen/Leben/Essen/Reisen, einer par­ti­zi­pa­ti­ven Demo­kra­tie und der Ret­tung des Öko­sys­tems über­win­den können.
Wir kön­nen nur mit dem Sän­ger, Dich­ter und Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger von 2017, Bob Dylan, gemein­sam das Lied anstim­men: „The Times They Are a-Changin’“.
Neue, gesell­schaft­li­che Lebens­ent­wür­fe haben gera­de jetzt ihre Zeit, weil wir immer mehr von der Gesell­schaft ver­ste­hen (sie­he auch Theo­dor W. Ador­no, Mini­ma Mora­lia).
Wann, wenn nicht jetzt, müs­sen wir öffent­lich über eine an den Men­schen und der Natur aus­ge­rich­te­te, soli­da­ri­sche Poli­tik nach­den­ken, anstatt wie­der der am Pro­fit und den Kapi­tal­ver­wer­tungs­in­ter­es­sen weni­ger Ver­mö­gen­der inter­es­sier­ten Kli­en­tel­po­li­tik auf Teu­fel komm raus auf den Leim zu gehen.
All das zu ver­ste­hen ist eine Sache, es zu ver­än­dern oder gar zu besei­ti­gen, wis­sen wir aus unse­ren eige­nen, per­sön­li­chen Erfah­run­gen, ist noch­mals eine ganz ande­re Angelegenheit.
Also packen wir es an!
Venceremos!

aus der Avan­ti O. April - Mai 2020
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