Neu­es Berufs­bild „Sitze­rIn“? Interclean

Neu­es Berufs­bild „Sitze­rIn“?

P.S.

In öffent­li­chen Toi­let­ten sind sie ein gewohn­tes Bild: Frau­en und Män­ner in Arbeits­kit­teln, die in der Anla­ge nach dem Rech­ten sehen und für Sau­ber­keit sor­gen. Rei­ni­gungs­kräf­te haben einen Anspruch auf den von der Gewerk­schaft IG BAU aus­ge­han­del­ten tarif­li­chen Min­dest­lohn von der­zeit 9,31 Euro im Wes­ten und 7,96 Euro im Osten. Nicht nur Inter­Clean, son­dern auch ande­re Betrei­ber öffent­li­cher Toi­let­ten haben sich ein Modell ein­fal­len las­sen, um den Min­dest­lohn der Rei­ni­gungs­kräf­te umge­hen und wei­ter Dum­ping­löh­ne von etwa 5 Euro – oft auch noch deut­lich weni­ger – zah­len zu kön­nen. Sie haben ein neu­es Berufs­bild erfun­den: das der „Sitze­rIn“, oder auch „Trink­geld­be­wa­che­rIn“.

Der oder die „Sitze­rIn“ soll den Ein­druck erwe­cken, selbst die Toi­let­ten zu rei­ni­gen, und z. B. durch Blick­kon­takt die Toi­let­ten­nut­ze­rIn­nen zur Gabe eines „Tel­ler­gel­des“ bewe­gen. Tat­säch­lich han­delt es sich hier um einen dop­pel­ter Betrug: Die Beschäf­tig­ten wer­den um einen Teil ihres Lohns gebracht, und die Nut­ze­rIn­nen der Toi­let­ten wer­den bewusst getäuscht. Denn das von den Kun­dIn­nen für die Beschäf­tig­ten zurück­ge­las­se­ne Geld wird von den Betrei­bern als „frei­wil­li­ges Nut­zungs­ent­gelt“ umge­deu­tet und voll­stän­dig ein­be­hal­ten. Dass dem so ist, dar­auf wird – wenn über­haupt – nur unzu­rei­chend hin­ge­wie­sen. Dass es sich hier nicht um unbe­deu­ten­de Sum­men han­delt, wur­de unter ande­rem bei dem Pro­zess Reiß­ner ./. Inter­Clean am 25. Sep­tem­ber 2014 vor dem Arbeits­ge­richt in Gel­sen­kir­chen deut­lich: Allein in den Mona­ten Mai und Juni 2013 betru­gen die ein­ge­nom­me­nen „Tel­ler­gel­der“ laut Aus­sa­ge von Inter­Clean ins­ge­samt rund 30.000 Euro. Laut Spie­gel Online (15.04.2014) kön­nen Rei­ni­gungs­fir­men an den lukra­tivs­ten unter den stil­len Ört­chen mit bis zu 1.000 Euro „Tel­ler­geld“ pro Tag rechnen.

Doch gibt es den Beruf  „Sitze­rIn“ über­haupt?
Die­se Fra­ge ist noch nicht abschlie­ßend geklärt, denn es exis­tie­ren hier­zu wider­sprüch­li­che Gerichts­ur­tei­le: Im März 2013 wies bei­spiels­wei­se das Ham­bur­ger Arbeits­ge­richt die Kla­ge einer „WC-Auf­sicht“ auf Zah­lung des Min­dest­lohns ab. Das Gericht stell­te dabei dar­auf ab, dass die Frau nicht bewei­sen konn­te, dass sie mehr als die Hälf­te ihrer Arbeits­zeit mit der Rei­ni­gung von WC-Räu­men beschäf­tigt gewe­sen sei. Das Lan­des­so­zi­al­ge­richt Ber­lin bewer­te­te dage­gen mit sei­nem Urteil aus Mai 2014 die aus­ge­üb­te Tätig­keit einer „Toi­let­ten­auf­sicht“ und die Anwend­bar­keit des Tarif­ver­trags der Rei­ni­gungs­bran­che anders (Az.: L 9 KR 384/12). Es ging hier um die Kla­ge der Deut­schen Ren­ten­ver­si­che­rung gegen einen Ber­li­ner Rei­ni­gungs­ser­vice auf Nach­zah­lung von Ver­si­che­rungs­bei­trä­gen für meh­re­re Jah­re. Nach Auf­fas­sung der Ren­ten­ver­si­che­rung hät­te der bran­chen­üb­li­che Min­dest­lohn gezahlt und für die Berech­nung der Sozi­al­bei­trä­ge zugrun­de gelegt wer­den müssen.

Tat­säch­lich hat­te das Unter­neh­men Löh­ne zwi­schen 3,60 und 4,50 Euro gezahlt. Das Gericht stell­te fest, dass von Rei­ni­gungs­un­ter­neh­men in Toi­let­ten­an­la­gen Beschäf­tig­te, unab­hän­gig von ihrer tat­säch­li­chen Tätig­keit, Rei­ni­gungs­kräf­te sei­en. Dar­um stün­de ihnen der ent­spre­chen­de tarif­li­che Min­dest­lohn zu, auch wenn sie gar kei­ne Rei­ni­gungs­ar­bei­ten durch­füh­ren wür­den. „Trink­geld­be­wa­che­rIn­nen“ gibt es laut die­sem Urteil nicht. Die Revi­si­on ließ das Gericht nicht zu. Infol­ge die­ses Urteils muss­te das Rei­ni­gungs­un­ter­neh­men 118.218,87 € an Sozi­al­bei­trä­gen nach­zah­len. Für als „Sitze­rIn­nen“, „Tel­ler­geld­be­wa­che­rIn­nen“, „Ser­vice-Kraft WC“ oder ähn­li­ches Beschäf­tig­te stellt die­ses Urteil eine Argu­men­ta­ti­ons­hil­fe für eige­ne Kla­gen auf Zah­lung des Min­dest­lohns für Rei­ni­gungs­kräf­te dar.

aus der Ober­hau­se­ner Bei­la­ge zur Avan­ti 227, Novem­ber 2014
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