Manuel Kellner
In den Wochen vor der Niederschlagung des Kornilow-Putschs hatten die Bolschewiki ihre Losung „Alle Macht den Sowjets!“ zurückgenommen. Grund war die damalige Vorherrschaft von Menschewiki und Sozialrevolutionären in den Räten (Sowjets). Diese Kräfte unterstützten offen die bürgerliche Regierung Kerenski, welche die Entwaffnung der ArbeiterInnen vor allem Petrograds und die Unterdrückung der revolutionären Linken betrieb. Darum suchten die Bolschewiki in dieser Zeit nach Rückhalt einige Ebenen tiefer: bei den Fabrikkomitees und anderen Massenorganisationen, in denen sie bereits die Mehrheit hatten.
Die Bolschewiki hatten bei der Niederschlagung des Putschs eine herausragende Rolle gespielt. Dadurch wurden die Regierung Kerenski und die von gemäßigten Kräften dominierten Sowjets vor dem Untergang bewahrt. Diese Tatsache und die am autoritären Programm Kornilows orientierte Politik der Regierung Kerenski änderten die Lage Anfang September 1917 grundlegend. Der Einfluss der Bolschewiki in den Räten wurde nach den jüngsten Erfahrungen immer größer.
„Alle macht den Räten!“
In dieser Situation stellten die Bolschewiki wieder die Losung „Alle Macht den Räten!“ auf. Sie hielten es für möglich, die Eroberung der Macht nunmehr wieder auf friedlichem Weg zu erreichen, indem sie die Mehrheit in den Räten eroberten. Sie schlugen den Menschewiki und Sozialrevolutionären einen neuen Pakt gegen das Kapital und seine Helfershelfer vor, in dessen Rahmen der Meinungsstreit in den Räten geführt werden sollte.
Erst die Ablehnung dieses Vorschlags durch die Menschewiki und Sozialrevolutionäre versperrte diesen Weg. Deshalb wurde die Losung „Alle Macht den Räten!“ rasch zur Perspektive der Macht für die Räte mit bolschewistischer Mehrheit. Von da an entwickelte sich in der bolschewistischen Führung die Orientierung auf den bewaffneten Aufstand.
In der nützlichen Dokumentensammlung Die russische Revolution 1917 (dtv-Dokumente, 1. Auflage 1964) finden sich unter anderem Texte von Lenin. Der russische Revolutionär setzte sich von seinem Versteck aus entschieden für den Kurs auf den Aufstand ein. Er forderte, die Macht so schnell als möglich zu erobern und den Räten zu übergeben.
„Hetze zum Aufstand“?
Überschrieben sind diese Texte mit „Lenins Hetze zum Aufstand“. Viele haben das abgeschrieben. Doch handelt es sich nicht um „Hetze“, sondern um eine ganz rationale Argumentation. Aufgrund verschiedener Faktoren stand die revolutionäre Erhebung auf der Tagesordnung. Das waren: der Aufschwung der Revolution auf internationaler Ebene, die bolschewistische Mehrheit in den ent- scheidenden Räten, der entfesselte Bauernkrieg auf dem Land und die Ablehnung der Fortführung des Kriegs durch die Mehrheit der Soldaten. Nicht zuletzt war es auch die Tatsache, dass nur die Machtergreifung durch die arbeitende Klasse die Revolution vor einer Niederlage bewahren konnte.
Die stalinistische Geschichtsfälschung hat später aus Lenin einen Heiligen gemacht. Die „Unfehlbarkeit“ Lenins war ein Hilfsmittel zur Vorbereitung der „Unfehlbarkeit“ Stalins und der stalinistischen Führung. Doch Lenin war natürlich nicht unfehlbar. Weil er sich vor Verfolgung verstecken musste, war er weit ab vom Schuss. Seine Orientierung auf den Aufstand setzte sich durch, weil sie der Stimmung der proletarischen Mitglieder der Partei und breiter Massen entsprach. Doch keiner der konkreten Vorschläge Lenins, wie der Aufstand technisch durchgeführt werden sollte, setzte sich durch. Diese Vorschläge wurden von den Akteuren vielmehr meist kaum zur Kenntnis genommen. Was im Oktober folgte, war tatsächlich ein – fast völlig unblutiger – Massenaufstand.