Nick Brauns:
Perspektiven aus heutiger Sicht, (2. März 2016)
Ich denke weiterhin nicht, dass Erdogans Herrschaft auf Dauer zementiert ist, da ja wirtschaftliche Probleme weiterbestehen. Zudem ist das außenpolitische Konzept der AKP in Syrien gescheitert, während die Kurden dort dank des russischen Eingreifens ihren Handlungsspielraum – jetzt umworben von Washington und Moskau – erweitern konnten.
Allerdings zeigt sich, dass das Konzept der Autonomie in den kurdischen Städten der Türkei gegen die ganze Macht eines feindlichen Staatsapparates nicht durchzuführen ist. Öcalans Buch, in dem er seine Theorien von Selbstverwaltung erläutert, hat auf deutsch den Titel „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“. Angesichts der weitgehenden Zerstörung von Städten wie Cizre und Diyarbakir Sur, der Vertreibung hunderttausender Einwohner und der Massaker an hunderten sowie der wohl systematischen Ermordung der städtischen Avantgarde der kurdischen Bewegung kann leider keine Rede von einem solchen anarchistischen Konzept des „Jenseits von Staat und Macht“ sein. Der bürgerliche Staatsapparat kann – wie wir von Lenin wissen – nicht einfach von den Arbeitern übernommen werden. Er kann aber – wie es sich Öcalan erhofft – auch nicht einfach links liegen gelassen werden. Er muss vielmehr – wieder Lenin – zerschlagen und durch den Rätestaat ersetzt werden.
Damit zeigt sich: Ohne eine Veränderung in der ganzen Türkei wird es nicht möglich sein, in Kurdistan die demokratische Autonomie auf kommunaler Grundlage aufzubauen. So wurde die Guerilla von der Heftigkeit der Angriffe mit Panzern und Artillerie auf die Städte in ihren Winterlagern in den Bergen überrascht und konnte nicht auf Seiten der attackierten Zivilbevölkerung eingreifen. Das könnte sich im März nach Schneeschmelze ändern. Dann droht der Krieg weiter zu eskalieren. Damit könnte zwar das Militär zurückgedrängt werden. Doch jeder tote Soldat führt in der Westtürkei zu nationalistischen Aufwallungen, dann drohen neue Pogrome gegen die HDP und Kurden generell. Die Spaltung des Landes wird damit weiter verschärft, auch wenn der wahre Separatist Erdogan und nicht die für eine gemeinsame, demokratische Türkei eintretende PKK ist.
Skeptischer als noch im November bin ich bezüglich der Westtürkei.
Die Einschüchterung der außerparlamentarischen Opposition nach dem Anschlag von Ankara und dem AKP-Wahlsieg, die Gleichschaltung der Medien mit ihrer nationalistischen Hetzpropaganda und die erneute Militarisierung der Gesellschaft haben ihre Spuren hinterlassen. Abgesehen von dem Akademikerappell für den Frieden von 2.000 Wissenschaftlern (die dafür jetzt wegen Terrorpropaganda verfolgt werden) wurden in den letzten Wochen keine Stimmen gegen die Massaker in Kurdistan laut. Nur Kurden und Kommunisten gehen in der Westtürkei – in kleiner Zahl – noch gegen den Krieg auf die Straße.
Die HDP ist in der öffentlichen Wahrnehmung wieder auf den Stand einer kurdischen anstelle einer türkeiweiten Linkspartei zurückgefallen. Ein positiver Ausblick fällt mir daher wesentlich schwerer als im November. Einziger Lichtblick: bei Renault in Bursa gibt es gerade wilde Streiks gegen die Entlassung von Gewerkschaftern, und am Schwarzen Meer in Artvin (einer sehr konservativ-nationalistischen Ecke) gibt es große Proteste gegen umweltzerstörerischen und giftigen Bergbau. Funken von Opposition gegen Erdogan sind also auch im Westen des Landes noch da.
herzliche Grüße
Nick
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