Erklärung von Yeniyol
Lasst uns die demokratische Front gegen die Staatsstreiche von Militär und Erdoğan organisieren und Klassenpolitik aufbauen
Wir haben am 15. Juli Sekunde für Sekunde den Ablauf eines Putsches erlebt, mit all seinen Unsicherheiten, der Unschlüssigkeit, den Bewegungen der sich gegenüberstehenden Seiten und den Grausamkeiten. Diese blutige Nacht, die in Erinnerung bleiben wird mit dem Kampf zwischen Soldaten und der Polizei, der Besetzung der Medien, Bildern von massakrierten ZivilistInnen und gelynchten Soldaten und der Bombardierung des Parlaments als einem Höhepunkt, erscheint als einer der letzten Akte des Machtkampfes zwischen ursprünglich Verbündeten in dem Staat, den die AKP und die Gülen-Bewegung gemeinsam errichtet haben1.
Basierend auf der Tatsache, dass das Erdoğan-Regime nicht zögert, auf Chaos und Bürgerkriegsatmosphäre zurückzugreifen, um seine Vormachtstellung nach den Wahlen vom 7. Juli 2015 aufrecht zu erhalten, gefolgt von der Niederschlagung des Putschversuches in einer sehr kurzen Zeit und dem Wiederauftauchen der Regierungsmitglieder in den Medien mit neuem Image, fanden viele Verschwörungstheorien breiten Widerhall, dass dieser Versuch konstruiert wurde, um Erdoğans diktatorische Gelüste zu verwirklichen.
Angesichts des Umstands, dass das Regime bei den letzten Wahlen mit fast 50 Prozent der Stimmen gestärkt wurde, ist eine vernünftigere Deutung, dass Unterstützer von Gülen, die sich mit einer großen Entlassungswelle konfrontiert sahen, und einige Teile der Armee, mit denen sie zusammenarbeiten, den Plan zu putschen in Eile vorangetrieben haben.
Obwohl detaillierte Informationen abgewartet werden müssen über die Motive, die Akteure der Bewegung und den Umfang der Informationen, die die Geheimdienste haben, ist es offensichtlich, dass das objektive Ergebnis dieses Ereignisses die Stärkung des islamisch-autokratischen Charakters von Erdoğans Regime sein wird.
Die ersten Anzeichen für die Tatsache, dass es eine neue und vielleicht endgültige politische Säuberung im Staatsapparat geben wird, sind tausende von Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten und Verhaftungen innerhalb der höheren Justizbehörden: am Morgen des 16. Juli, direkt am Tag, nachdem die Unterstützer des Regimes die Demokratie mit den Parolen „Allahu ekber“ (Allah ist groß), „Recep Tayyip Erdoğan“ und „Wir wollen die Todesstrafe“ gerettet haben.
Die Tatsache, dass die Aufrufe der staatlichen Institutionen und aller Moscheen, die die Menschen auf die Straße bringen sollten, um das Regime gegen den Putsch zu verteidigen, in Angriffe auf die syrische Bevölkerung und in Spannungen in alevitischen Vierteln umschlugen, zeigt deutlich, wie sich die mehrdimensionale Polarisierung innerhalb der türkischen Gesellschaft auf ein sehr gefährliches Niveau gesteigert hat.
Und wir haben keinen Zweifel, dass Erdoğans Palast2 und die Regierung, die AkademikerInnen, JournalistInnen, Staatsbedienstete, kurdische AktivistInnen und SozialistInnen zu Putsch-BefürworterInnen erklärt und ihre Verhaftung veranlasst haben, wobei sie jedes Wort gegen das Regime mit Terrorismus in Verbindung gebracht haben, diesen Putschversuch am 15. Juli nutzen werden zur Rechtfertigung eines scharfen Angriffs gegen jede Art von Opposition.
Und mittelfristig können wir sicher sein, dass der Putschversuch vom 15. Juli der erste der Gründungsmythen von Erdoğans Regime sein und nicht Geschichte machen wird als ein gescheiterter Putschversuch ohne Basis, Führung und externe Unterstützung, sondern als ein Putsch, bei dem das Volk auf die Panzer kletterte, Widerstand leistete und ihn stoppte.
Alle Organisationen der radikalen Linken und alle Pateien, die im Parlament vertreten sind, erklärten, dass sie den Putsch ablehnen. Auch für uns ist es eine prinzipielle Frage, Stellung zu beziehen gegen den Putsch und im Bewusstsein zu behalten, dass Lohnabhängige und unterdrückte Menschen niemals etwas durch eine militärische Intervention gewinnen können, die damit beginnt, demokratische Rechte und Freiheiten außer Kraft zu setzen.
Darüber hinaus erklären wir, dass wir auch Stellung beziehen und beziehen werden gegen den Putsch des Palastes, der die Wahlergebnisse nicht anerkannte, um seine Vorherrschaft zu behaupten, Kurdistan zerstörte, um die Stimmen der Nationalisten zu bekommen, Massenstreiks verbot und sie zur „nationalen Bedrohung“ erklärte und danach strebte, das Recht der KurdInnen auf Repräsentation abzuschaffen.
Eine Positionierung gegen den Putsch, die sich nicht des Dilemmas „Putsch oder Erdoğan“ entledigen kann, mit dem Erdoğan die Politik in die Falle gelockt hat, spielt in die Hände des Regimes, das nicht nur Putschversuche, sondern alle Teile der Opposition im Namen des „nationalen Willens“ blutig unterdrücken und nicht zögern wird, die islamisch-faschistischen Kräfte zu nutzen, die wir am 15. Juli am Werk gesehen haben.
Der Weg, die Angriffe gegen Lohnabhängige, ethnisch-religiöse Minderheiten, Frauen, LGBTI-Personen3 und oppositionelle Elemente eines diktatorischen Regimes abzuwehren, das absolute Macht anstrebt im politischen, juristischen, militärischen, ökonomischen Bereich, indem es sich selbst zum Opfer des Putsches macht, ist, eine vereinigte Front der existierenden demokratischen Kräfte und Friedenskräfte zu errichten.
Der Weg, sowohl den islamisch-kapitalistischen Machtblock als auch die Möglichkeit einer blutigen Militärdiktatur dauerhaft in den Mülleimer der Geschichte zu werfen, ist der Weg, der bislang ignoriert wurde; geduldig von unten die soziale Opposition aufzubauen, mit der ArbeiterInnenklasse in ihrem Zentrum.
Der Weg ist dunkel; lasst Hoffnung und Widerstand unser Licht sein!
Sosyalist Demokrasi için Yeniyol, türkische Sektion der IV. Internationale, 17. Juli 2016
Originaltext: http://internationalviewpoint.org/spip.php?article4617