Nordkurdistan / Türkei
Freiheit hinter Barrikaden
Teil 1: Historische Einordnung der Wahl in der Türkei
Linda Martens
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl in der Türkei am 1. November gewann die AKP, „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“, die absolute Mehrheit zurück. Der Journalist und Historiker Dr. Nick Brauns hatte in den Wochen vor der Wahl die kurdischen Landesteile der Türkei bereist. Über seine Eindrücke und seine Einschätzung der Lage nach der Wahl berichtete er am 21. November bei einer Veranstaltung, zu der NAV-DEM Duisburg1 eingeladen hatte.
Der Wahlsieg der AKP, der Partei des amtierenden Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, war ein Schock für demokratisch gesonnene Menschen in der Türkei und erzeugte Ratlosigkeit. Nick Brauns, der Nordkurdistan – den Osten der Türkei – in den vergangenen 15 Jahren immer wieder besucht hatte, betonte zu Beginn der Veranstaltung, wie wichtig es sei, diese Wahl historisch einzuordnen: Dadurch würden Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten für fortschrittliche Kräfte sichtbar, und die Schockstarre könnte weichen. So beschränkte er seinen Bericht nicht auf die Erfahrungen, die er bei seiner letzten Reise gesammelt hatte, sondern gab den TeilnehmerInnen einen Überblick über die Entwicklung der Türkei seit dem Ende der 1990er Jahre – der Zeit, wo die AKP begann, bedeutsam zu werden. Die damalige Türkei skizzierte er als einen verrotteten, mafiösen Staat, der vom schmutzigen Krieg gegen Kurdistan geprägt und durchmilitarisiert war. 1999 wurde der Vorsitzende der ArbeiterInnenpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, in die Türkei verschleppt. Bürokratische Strukturen und der Einfluss der Mafia stellten Hindernisse dar für die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei. Um die Entwicklung des Landes zu ermöglichen, bedurfte es einer neuen Partei. Die AKP schien die Rolle einer Reformpartei spielen zu können. Sie hatte alle antiwestlichen Punkte aus ihrem Programm gestrichen. 2002 wurde die AKP auf Anhieb stärkste Partei und stellte allein die Regierung. Zu Beginn trat sie liberal auf und führte Reformen ein – einige allerdings nur auf dem Papier. Großen Applaus für ihre Politik erhielt die AKP von der Wirtschaft: Denn sie führte Privatisierungen durch, liberalisierte den Arbeitsmarkt und baute soziale Rechte ab, um sie durch islamische Wohlfahrtspflege zu ersetzen. Angeblich führte Erdoğans Politik zum Wirtschaftsaufschwung. Der Aufschwung beruhte jedoch wesentlich auf dem Zufluss von ausländischem Kapital. Problematisch war auch, dass sich in der Türkei keine produzierende Industrie entwickelte. Lediglich die Bauindustrie weitete sich aus, und es entstand eine Immobilienblase. In den Jahren 2002 bis 2009 baute die Regierung den türkische Staat um und drängte das Militär zurück. Die AKP wurde zur Staatspartei. Es fand ein Elitenwechsel statt, die alte Elite wurde zum Teil weggesperrt. Im Jahr 2010 wurde mit Hilfe eines Referendums die Justiz der AKP untergeordnet. Seitdem ballt sich die gesamte Staatsmacht bei der AKP, die zunehmend autoritär handelte. Im selben Jahr wurden streikende TabakarbeiterInnen von Spezialeinheiten der Polizei mit Pfefferspray und Wasserwerfern angegriffen. Die Regierung baute mit religiös verbrämter Politik Feindbilder auf, die Handlungsfreiheit von Frauen wurde durch Moralvorschriften eingeschränkt. Im Jahr 2013 geriet die Macht der AKP in eine Krise. Erdoğan musste öffentlich eingestehen, dass die kurdische Frage militärisch nicht zu lösen ist. Es begann der Dialog zwischen der türkischen Regierung und dem PKK-Vorsitzenden Öcalan. Der Kampf um die Selbstbestimmung der KurdInnen wurde seitens der PKK nun als politischer und nicht mehr als bewaffneter Kampf geführt. Im Sommer desselben Jahres setzten auch die Gezi-Park-Proteste ein, in denen sich der Frust aller GegnerInnen des Erdoğan-Regimes entlud – sowohl der linken als auch der rechten. Millionen gingen gegen die Regierung auf die Straße. Der Staat reagierte auf die Proteste mit Gewalt in Form von Prügel und Gasgranaten. Zehn DemonstrantInnen wurden getötet. Durch die Gezi-Park-Bewegung, vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings, wurde das Image der AKP, Vorbild für den Nahen Osten zu sein, zerstört. In der Folge wurde ausländisches Kapital aus der Türkei abgezogen. Ab 2012 wurde die türkische Regierung mit der Ausweitung der Revolution in Rojava und der Selbstverwaltungsbewegung konfrontiert. „Rojava“ ist die kurdische Bezeichnung für die überwiegend kurdisch bewohnten Regionen im Norden Syriens, also für Westkurdistan. Die Fahnen der PYD – der „Partei der Demokratischen Union“, die der PKK nahe steht – waren von der türkischen Grenze aus zu sehen. Für die AKP war dies ein Schock. 2012 wurde auch die mehrheitlich kurdische HDP – die Demokratische Partei der Völker – gegründet und gewann bald an Bedeutung. Im Dezember 2013 begann der scharfe Konflikt zwischen der AKP-Regierung und der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, die bis dahin Verbündete waren. Die Gülen-Bewegung wurde von der Regierung für die Einleitung von Korruptionsverfahren u. a. gegen Erdoğan verantwortlich gemacht und zum Staatsfeind erklärt. Das Konzept von Erdoğan, mit dieser Krise fertig zu werden, bestand darin, den so genannten IS2 zu unterstützen. IS-Kämpfer, die bei den Angriffen auf kurdische Städte in Rojava verletzt wurden, wurden in türkischen Krankenhäusern behandelt. Mit LKW wurden aus der Türkei Waffen für den „IS“ nach Syrien transportiert. Das Konzept scheiterte: Durch den erfolgreichen Kampf gegen den „IS“ konnte die PKK ihr Ansehen deutlich verbessern und bekam ein gutes Image als Verteidigerin demokratischer Rechte. Die USA wurden dadurch und durch die entstandene internationale Solidaritätsbewegung so unter Druck gesetzt, dass sie auf Seiten der KurdInnen militärisch eingreifen mussten. Dies wirkte auch in die Türkei hinein: Die Menschen konnten sehen, dass es eine Kraft gab, die in der Lage war, dem „IS“ entgegen zu treten und die erkämpften Rechte zu verteidigen. Unterdrückte Bevölkerungsgruppen und fortschrittliche Kräfte wie AlevitInnen und Linke schöpften dadurch neuen Mut. Auf dieser Entwicklung und auf der Gezi-Park-Bewegung konnte die HDP aufbauen und ihr Image, reine Interessenvertretung der KurdInnen zu sein, ablegen. Sie wurde nun als Partei aller demokratischen Kräfte, die für politische und soziale Rechte von Ausgebeuteten und Unterdrückten kämpfen, wahrgenommen. Fortsetzung folgt.
Fußnoten 1 Der bundesweit tätige Verein NAV-DEM ist Ergebnis der Neuorganisation der Arbeit des Dachverbandes kurdischer Vereine und Institutionen. Er löst die Föderation der Kurdischen Vereine in Deutschland – YEK-KOM e.V. – ab. Der NAV-DEM e. V. soll die Zusammenarbeit von Frauen, Jugendlichen, verschiedenen kurdischen Religionsgemein- schaften und der insgesamt 260 Vereine und Einrichtungen koordinieren. Die primäre Entscheidungsbefugnis liegt dabei bei den Gesellschaftszentren auf der lokalen Ebene. Ziel der Neuorganisierung ist die Organisierung und Förderung der Demokratie an der Basis. Mehr Informationen unter *www.navdem.com.
2 IS steht für „Islamischer Staat“. Siehe hierzu auch den Artikel unten auf dieser Seite.
Der Referent
Dr. Nick Brauns wurde 1971 in München geboren und lebt und arbeitet heute in Berlin. Türkei/Kurdistan gehört zu seinen Schwerpunktthemen, und er unternimmt regelmäßig politische Studienreisen in den Nahen Osten. Ein weiteres Spezialgebiet von Nick Brauns ist die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. So hat er in Neuer Geschichte über die Rote Hilfe Deutschlands promoviert. Auf seiner Website findet Ihr neben Informationen zu seiner Person auch Fotoreportagen und zahlreiche Texte unter anderem über den Nahen Osten. Es lohnt sich, diese Website anzuschauen, wenn Ihr mehr Informationen zum Beispiel über die Situation in der Türkei vor und nach den letzten Wahlen, über die Verteidigung der kurdischen Stadt Kobanê (Rojava, Syrien) gegen den so genannten IS und über die Lebensbedingungen in Kurdistan haben möchtet: www.nikolaus-brauns.de
Alle 3 Teile und der Nachtrag von Nick Brauns zum Download