Das Kali­fat des Terrors

Das Kali­fat des Terrors

Har­ry Tuttle

Gegen den Ter­ror des „Isla­mi­schen Staa­tes“ kämp­fen im Irak und in Syri­en vor allem KurdInnen.

Auch in den bru­tals­ten Bür­ger­krie­gen bemü­hen sich die kämp­fen­den Par­tei­en fast immer, ihre Ver­bre­chen zu ver­ber­gen. Nicht so der „Isla­mi­sche Staat“ (IS), der im Inter­net gera­de­zu obses­siv mit den Gewalt­ex­zes­sen sei­ner Kämp­fer prahlt. Das ver­brei­tet Angst, zur Pro­pa­gan­da bedürf­te es jedoch nicht einer sol­chen Fül­le von abscheu­li­chen Vide­os und Bil­dern, die über­dies auch pri­vat ver­brei­tet wer­den. So ver­öf­fent­lich­te ein Aus­tra­li­er auf Twit­ter das Foto sei­nes zehn­jäh­ri­gen Soh­nes, der mit einem abge­schnit­te­nen Kopf posiert.

Der IS pro­pa­giert jiha­dis­ti­sche Gewalt nicht als not­wen­di­ges Übel, son­dern als Lebens­form und zieht offen­bar vor allem damit Rekru­ten aus aller Welt an – über­wie­gend aber aus dem Wes­ten. Min­des­tens 15, wahr­schein­lich aber mehr als 20 Pro­zent der der­zeit etwa 15.000 Kämp­fer kom­men aus Euro­pa, den USA und Aus­tra­li­en. Meist han­delt es sich um zuvor reli­gi­ös des­in­ter­es­sier­te jun­ge Män­ner, die oft inner­halb weni­ger Mona­te zu Jiha­dis­ten wer­den. Sie mor­den nicht, weil sie den Jihad füh­ren, son­dern füh­ren den Jihad, weil sie mor­den wol­len. Um ein „Migra­ti­ons­pro­blem“ han­delt es sich nicht. Vie­le sind, wie Phil­ip B. aus Dins­la­ken, der Anfang August bei einem Selbst­mord­at­ten­tat 20 kur­di­sche Sol­da­ten töte­te, Kon­ver­ti­ten; fast alle sind im Wes­ten aus­ge­wach­sen. Dass weit­aus mehr Rekru­ten aus dem Wes­ten als aus der viel zahl­rei­che­ren mus­li­mi­schen Bevöl­ke­rung des sub­sa­ha­ri­schen Afri­ka oder Indo­ne­si­ens sich dem IS anschlie­ßen, spricht dafür, dass spe­zi­fi­sche Bedin­gun­gen der wirt­schafts­li­be­ra­len Sozia­li­sa­ti­on wie gesell­schaft­li­che Ent­so­li­da­ri­sie­rung und Ver­ein­ze­lung bei immer gerin­ger wer­den­den Auf­stiegs­chan­cen die Anfäl­lig­keit erhöhen.

Ideo­lo­gie und Gewalt
Im Nahen Osten sind die tra­di­tio­nel­len Struk­tu­ren, die trotz der Erzie­hung zu „wehr­haf­ter“ Männ­lich­keit die Gewalt im Zaum hiel­ten, durch wirt­schafts­li­be­ra­le Refor­men geschwächt und durch Dik­ta­tur und Bür­ger­krieg oft zer­stört wor­den. Der IS ist ein patho­lo­gi­sches Phä­no­men des Spät­ka­pi­ta­lis­mus, doch obwohl der Feld­zug einem aus­ge­dehn­ten kol­lek­ti­ven Amok­lauf gleicht, hat die Gewalt eine ideo­lo­gi­sche Grund­la­ge, die auch in ihrer reli­giö­sen Legi­ti­ma­ti­on ernst genom­men wer­den muss. Die Ideo­lo­gie des IS ist aus dem Wah­ha­bis­mus her­vor­ge­gan­gen, der Staats­dok­trin Sau­di-Ara­bi­ens. Die Wah­ha­bi­ten beru­fen sich auf den Han­ba­lis­mus, eine der im sun­ni­ti­schen Islam als ortho­dox aner­kann­ten Rechts­schu­len. Die­se extrem puri­ta­ni­sche und reak­tio­nä­re Inter­pre­ta­ti­on des Islam war und ist mino­ri­tär, doch kann sich der IS auf die­se Tra­di­ti­ons­li­nie beru­fen und ande­ren Isla­mis­ten vor­wer­fen, sie schreck­ten nur vor der kon­se­quen­ten Ver­wirk­li­chung ihrer Ideen zurück. Dass die isla­misch-reak­tio­nä­re Regie­rung der Tür­kei und die fun­da­men­ta­lis­ti­schen Herr­scher der Golf­mon­ar­chien den IS bzw. des­sen Vor­gän­ger­or­ga­ni­sa­ti­on Isis (Isla­mi­scher Staat im Irak und al-Sham, die Bezeich­nung für ein Syri­en und benach­bar­te Regio­nen umfas­sen­des Gebiet) unter­stütz­ten, hat­te aller­dings über­wie­gend stra­te­gi­sche Grün­de. Die Tür­kei woll­te vor allem die kur­di­sche Bewe­gung schwä­chen, da die mit der PKK ver­bun­de­ne PYD die über­wie­gend kur­di­schen Gebie­te Syri­ens, Roja­va, wäh­rend des Bür­ger­kriegs befrei­en konn­te. Die Golf­mon­ar­chen woll­ten die Demo­kra­tie­be­stre­bun­gen des „ara­bi­schen Früh­lings“ durch eine Kon­fes­sio­na­li­sie­rung der Kon­flik­te neu­tra­li­sie­ren. So hat Isis weit­aus häu­fi­ger gegen ande­re Rebel­len­grup­pen gekämpft als gegen die Trup­pen des syri­schen Regimes, das im Gegen­zug nur sel­ten gegen die Jiha­dis­ten vor­ging. Gestärkt durch Anschub­fi­nan­zie­rung und Waf­fen­lie­fe­run­gen, über­fiel Isis dann den Zen­tral­irak. Dort kam den Jiha­dis­ten die anti­sun­ni­ti­sche Poli­tik des Minis­ter­prä­si­den­ten Nou­ri al-Mali­ki zugu­te, die ihnen sun­ni­ti­sche Mili­zen als Ver­bün­de­te zutrieb. Den Erfolg fei­er­te man mit der Strei­chung der geo­ga­phi­schen Begren­zung aus dem Orga­ni­sa­ti­ons­na­men und der Aus­ru­fung des Kali­fats – bei­des Maß­nah­men, mit denen eine Befehls­ge­walt über alle Mus­li­me in Anspruch genom­men wird.

Demo­kra­ti­sche Alter­na­ti­ve
Mit den erbeu­te­ten Waf­fen (dar­un­ter moder­ne Kampf­fahr­zeu­ge aus den USA) und im Besitz lukra­ti­ver Ölquel­len ist der IS auf aus­län­di­sche Unter­stüt­zung nicht mehr ange­wie­sen. Doch die Ver­tei­di­gungs­li­ni­en sind weit über­dehnt, die Stär­ke des IS ist allein die Schwä­che sei­ner Geg­ner. Mili­tä­ri­schen Wider­stand leis­ten der­zeit vor allem kur­di­sche Trup­pen, die Pesh­mer­ga der nord­ira­ki­schen Par­tei­en KDP und PUK, die Miliz YPG der PYD sowie Ein­hei­ten ira­nisch-kur­di­scher Par­tei­en. Mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung und Waf­fen­lie­fe­run­gen des Wes­tens wer­den so dosiert, dass der IS den Nord­irak nicht über­ren­nen kann, die kur­di­schen Par­tei­en aber nicht ermu­tigt wer­den, einen unab­hän­gi­gen Staat aus­zu­ru­fen. Der Nord­irak ist eine fak­tisch bereits weit­ge­hend unab­hän­gi­ge bür­ger­li­che Repu­blik mit einem von den bei­den gro­ßen kon­kur­rie­ren­den Par­tei­en beherrsch­ten Kli­en­tel­sys­tem. In Roja­va wur­de ein Sys­tem der Selbst­ver­wal­tung eta­bliert, das basis­de­mo­kra­ti­sche Ent­schei­dun­gen ermög­li­chen soll. Kur­di­sche Kri­ti­ke­rIn­nen und Men­schen­recht­le­rIn­nen bemän­geln aller­dings die Behin­de­rung oppo­si­tio­nel­ler Tätig­keit durch die PYD. Unge­ach­tet der teils kriegs­be­ding­ten Defi­zi­te sind die kur­di­schen Gebie­te der Flucht­punkt für Hun­dert­tau­sen­de vom isla­mis­ti­schen Ter­ror Bedroh­te. Der­zeit ste­hen die kur­di­schen Kämp­fe­rIn­nen – alle Mili­zen haben gemisch­te und Frau­en­ein­hei­ten – an der Front­li­nie der Zivi­li­sa­ti­on gegen die Bar­ba­rei. Aber auch eine poli­ti­sche Erneue­rung des Nahen und Mitt­le­ren Ostens etwa durch eine demo­kra­ti­sche Föde­ra­ti­on, der auch nicht­kur­di­sche befrei­te Gebie­te sich anschlie­ßen, könn­te hier ihren Anfang nehmen.

aus der Ober­hau­se­ner Bei­la­ge zur Avan­ti 225, Sep­tem­ber 2014
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